Der begehrte Reisepass
Ekaterina ist eine von rund 10.000 Russinnen, die vergangenes Jahr schwanger nach Argentinien reisten. Wird ein Kind dort geboren, erhält es automatisch die Staatsbürgerschaft. Und damit einen Pass, der die visafreie Einreise in 160 Länder möglich macht. Die Eltern erhalten die Staatsbürgerschaft später ebenfalls recht einfach. Angesichts des Angriffskriegs gegen die Ukraine, der bei vielen Russen zu Unsicherheit und Nachteilen führt, ist Argentinien daher besonders attraktiv.
Ekaterina war im achten Monat schwanger, als sie mit ihrer kleinen Familie im Juni ins Flugzeug stieg. Das hätten sie schon entschieden, bevor im Februar 2022 „etwas mit der russischen Politik“ passiert sei, sagt sie. Generell wählt sie ihre Worte mit Bedacht, will sie doch vielleicht zurück in die Heimat. Ihre Söhne dort großzuziehen, kann sie sich durchaus vorstellen. „Und wenn sie später in Russland leben wollen, sollen sie das tun. Ich möchte aber, dass sie die Welt sehen können“, erklärt sie. Es sei auch eine Art Plan B, so Ekaterina, „in einer Welt, die sich ständig ändert“.
Argentinien ist es aus mehreren Gründen geworden. Da feststand, dass sie einen Kaiserschnitt brauchen würde, war ihr ein gutes Gesundheitssystem wichtig. Das hat Buenos Aires, gerade im Vergleich zu Wolgograd. Ihre erste Wahl war Argentinien trotzdem nicht. „Ich wollte in die USA oder nach Kanada. Aber da kriegen wir die Visa nicht mehr so leicht“, sagt sie. Freundinnen hätten ihr Buenos Aires wärmstens zum Kinderkriegen empfohlen.
So weit weg wie möglich
Auch Grafikdesignerin Alisa wäre vor einem Jahr lieber nach Kanada statt nach Argentinien ausgewandert. Den Krieg in der Ukraine bezeichnet sie als solchen, Putin könne ihr hier nichts anhaben. Die 35-Jährige wollte vor allem eins: so weit weg von Russland wie möglich.
Auf die Frage nach dem Warum lacht sie traurig auf. Sie klingt erschöpft, als sie erzählt: „Ich konnte dort nicht weiterleben. Und schon gar nicht leise sein.“ Alisa wohnte in der Stadt Kursk, gute eineinhalb Autostunden von der ukrainischen Grenze. „Als sie einmarschiert sind, habe ich die Flieger über uns gehört“, sagt sie leise. Viele ihrer Freunde seien Ukrainer. Sie habe nicht aufhören können zu weinen, als ihr klar wurde, was geschehen war.
"Russland ist kein Ort für Kinder"
Von da an ging es sehr schnell – innerhalb weniger Tage flog sie mit ihrem Mann und dem heute dreijährigen Kind nach Buenos Aires. Sie war damals nicht schwanger, ihr Sohn war dennoch ein wichtiger Grund für den Umzug. „Russland ist kein Ort für Kinder – sogar im Kindergarten sind sie der Kreml-Propaganda schon ausgesetzt.“
Von Argentinien habe sie keine Ahnung gehabt, bevor sie herkam. „Es ist einfach eines der wenigen Länder, in die wir noch schnell einreisen können.“ Heute ist sie froh, dort gelandet zu sein. Sie fühle sich willkommen, das sei keine Selbstverständlichkeit: „Die Argentinier freuen sich, dass wir da sind. Hier gibt es keine Russenfeindlichkeit wie in anderen Ländern.“
Argentinien will Einreise erschweren
Ob sie bleiben kann, das weiß sie noch nicht. Dass sie den Pass so schnell bekommt, glaubt Alisa nicht. „Würde ich noch ein Baby bekommen, ginge es schneller“, meint sie . Künftig könnte aber auch das nicht mehr so einfach sein. Argentinien sieht sich als Opfer von Netzwerken, die mit dem Geburtstourismus viel Geld verdienen sollen, und will schwangeren Russinnen die Einreise erschweren.
Eine, die mit ihrem Blog so manche auf die Idee gebracht hat, für die Entbindung nach Buenos Aires zu fliegen, ist Politikwissenschafterin Alexandra. Sie hat Moskau schon vor 15 Jahren verlassen. Als sie damals in Buenos Aires ankam, war sie mit ihrer ersten Tochter schwanger. Heute hat die 40-Jährige sechs Kinder, das jüngste ist ein paar Monate alt. Alle haben die argentinische Staatsbürgerschaft – bis auf eines, das während eines Arbeitsaufenthalts in den USA zur Welt kam.
„Netter Nebeneffekt“
Alexandra und ihr Mann zogen nach Argentinien, weil sie sich beim Reisen in das Land verliebt hatten. „Die Staatsbürgerschaft war ein netter Nebeneffekt“, sagt sie. Damals sei es noch außergewöhnlich gewesen, Russin in Buenos Aires zu sein – die Argentinier hätten sie und später ihre blonden, blauäugigen Kinder angeschaut, „als wären wir Aliens“. Das habe sich geändert: „Wenn ich heute auf den Spielplatz gehe, treffe ich immer ein paar russische Familien.“
Bereits vor dem Krieg seien mehr gekommen, seitdem sei die Anzahl noch mal in die Höhe geschossen. Ein Unterschied ist Alexandra noch aufgefallen: „Früher kamen sie, um ein glücklicheres Leben zu führen. Heute suchen sie nach Sicherheit.“
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