„Als ich bemerkt habe, dass ich ein Kind bekomme, dachte ich nur: Oh mein Gott. Bitte nicht jetzt“, sagt sie heute. Sie steht im Luftschutzkeller eines Kiewer Hotels, aus Sicherheitsgründen, die Wände sind grau, die Luft schlecht. Marjana lächelt, neben ihr steht ihre Freundin Anastasija Tschernenko. Die beiden Frauen, beide rotes Haar, 31 und 32 Jahre alt, wurden gemeinsam verhaftet, waren gemeinsam in einer Zelle. Wie sehr sie das zusammengeschweißt hat, ist mehr als sichtbar. Ständig suchen sie einander mit Blicken.
In Mariupol Leben gerettet
„Marjana war Ärztin bei den Streitkräften, ich Soldatin“, sagt Anastasija. Zwei von etwa 50.000 Frauen beim ukrainischen Militär, mindestens 5.000 direkt an der Front, als Sanitäterinnen, Scharfschützinnen, Aufklärerinnen. „Wir waren in Mariupol, Marjanas Heimatstadt, holten Leute aus ihren Verstecken in den großen Stahlwerken“, sagt sie. Acht, neun Leute am Tag waren es, die sie retteten. Marjana verarztete Verletzte, hielt immer wieder Tote in den Armen. Sie standen ständig unter Beschuss.
Warum bleibt man da, mit einem neuen Leben im Bauch?
Größer als die Angst zu sterben
„Ich fühlte mich verpflichtet“, sagt Marjana. Sie zuckt mit den Schultern. Ihrem Mann, der damals in Lwiw war, sagte sie nichts von der Schwangerschaft, er erfuhr viel später davon. „Ich dachte, es wäre leichter für ihn, wenn nur ich sterbe. Und nicht auch unser Kind.“
Die Angst, dass die Russen sie erwischen könnten, war da, natürlich. Manchmal war sie sogar größer als die Furcht zu sterben, sagt sie heute. Zu viele Geschichten aus den Gefängnissen machten unter den Soldaten die Runde, über Gewalt, Folter, Vergewaltigungen. Zu hören bekommt man die vor allem aus dem Oleniwka-Gefängnis, der berüchtigtsten aller Haftanstalten im Donbass. Dorthin brachten die Russen damals alle Asow-Kämpfer.
Und jetzt auch Marjana und Anastasija.
„Angst. Ich hatte nur Angst“, sagt Marjana. Heute wirkt sie stark, wenn sie das sagt. Sie ist nicht groß, vielleicht 165 Zentimeter, und eher zierlich. Die Aufseher sind alle Männer. Allein, sagen die beiden Frauen, wären sie wohl verloren gewesen. Wie viele andere, die nie wieder auftauchen. 3.400 Menschen sitzen offiziell in russischer Gefangenschaft, bei 15.000 hat sich die Spur verloren.
Schlagen, mit Stöcken treten
„Ich habe selbst Kinder, zwei Mädchen, 8 und 13“, sagt Anastasija. „Als sie uns festnahmen, sagte ich den Männern, wir hätten eine Schwangere dabei.“ Normalerweise begrüßen die Russen die Gefangenen mit Prügeln, schlagen mit Stöcken, treten. „Marjana haben sie verschont.“ Sie auch? Sie zieht den Mundwinkel hoch. „Mich haben sie anders behandelt.“
Die Zelle, in der die Frauen die nächsten Monate verbringen sollten, ist für sechs Menschen gemacht. Sie sind zu vierzigst darin. „In den Bettkojen lagen zwei, drei Frauen übereinander, viele davon Zivilistinnen. „Jeder Zentimeter Boden war bedeckt“, sagt Anastasija. „Ich hatte ständig Angst, dass jemand auf Marjana steigt, ihr Kind verletzt. Ich schlief am Boden, sie auf einer Liege. Matratzen gab es keine.“
Fragen ohne Antworten
Die Zelle ist Küche, Schlafraum, Toilette in einem. „Durch die Decke regnete es, der Ammoniakgeruch war betäubend, und zu essen gab es kaum etwas. Wir bekamen dünne Suppe, Brot mit Tee. Aber Schwangere brauchen Vitamine“, sagt Anastasija. Sie schließt die Augen. Marjana sagt: „Ich wollte nur essen, immer nur essen.“ Dann begannen die Verhöre.
Die Wächter holten sie regelmäßig ab, stellten ihnen Fragen, auf die es keine Antworten gab. Warum die Ukraine Russland überfallen hat, damals, 2014, und jetzt? Warum sie nicht wieder zurückwollen, ins sowjetische Reich? „Sie drohten, uns nie wieder rauszulassen“, sagt Anastasija. Marjana drohen sie, ihr das Baby wegzunehmen. „Sie sagten, wir schicken Dich in ein Lager und das Kind in ein Heim. Du wirst es nie wiedersehen.“ Im August flog dann auch noch eine russische Bombe auf das Lager, 50 Insassen verbrannten, ein paar hundert Meter weit weg von ihnen.
Wie hält man das aus?
Anastasija sagt, sie dachte an ihre Kinder. Und hielt sich daran fest, das Baby durch den Bauch ihrer Freundin zu spüren. Marjana versprach ihrem Kind, nicht zu weinen. „Und ich habe nicht geweint.“
Im siebten Monat wurde Marjana ins Spital gebracht. „Bis dahin habe ich nicht gewusst, wie es meinem Kind geht.“ Die Erleichterung war groß, riesengroß, endlich durfte sie an die frische Luft.
Später, da war es schon nicht mehr lange bis zur Geburt, war dann von einem Austausch die Rede. Mehr als 200 ukrainische Gefangene standen auf der Liste, darunter auch die beiden. „Ich dachte, das Kind kommt im Bus nach Russland“, sagt Marjana. Mit verbundenen Augen wurden sie nach Moskau, später nach Belarus geflogen. „Als ich jemanden ukrainisch sprechen hörte, klang das im ersten Moment fremd“, sagt Marjana. Es war ihr Mann, Muschik nennt sie ihn.
Vier Tage später kommt ihre Tochter Anna zur Welt. Sie ist völlig gesund.
Wenn Anastasija an die Zeit zurückdenkt, an die Zelle, an die Dunkelheit, überrollen sie die Gefühle. „Das ist hart.“
Marjana sagt, ihr hilft die Zeit mit Anna. Sie bleibt bei ihr, „das hat Vorrang.“
Ob sie es trotzdem nochmals tun würde? Wieder an die Front gehen?
„Ja.“
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