Sprung vom Zehn-Meter-Turm: Wer traut sich?

Sprungturm Seewalchen
Spezialistinnen erklären, wie Menschen ihre Entscheidung fällen und welche Faustregeln es für Laien gibt

Ja oder nein? Springen oder nicht? Jetzt oder nie! Der Sprung vom 10-Meter-Turm verlangt Überwindung – und das zu Recht.

In steter Regelmäßigkeit überträgt ein deutscher Privatsender, wie sich Halbprominente mit ganzem Einsatz von einer zehn Meter hohen Plattform ins Wasserbecken stürzen. Manche bestehen glücklich bis gekonnt die zum Klassiker gewordene Mutprobe. Andere kommen in ihrer Selbstüberschätzung und ihrem Hang zur Selbstverstümmelung gar nicht so weit, zerreißen sich bereits in der Trainingsphase Schultersehnen oder beide Trommelfelle, für den weiblichen Reality-Star wird das beschädigte Brustimplantat bittere Realität, ein Ex-Fußballer erleidet herbe Verluste im Genitalbereich. Genüsslich aufbereitet in einigen Medien, vom Publikum mit Be- und Verwunderung, gar mit Schadenfreude aufgenommen.

Doch sie bleibt, die Faszination des 10-Meter-Turms. Einzählen kann helfen, um wegzuspringen. Auf drei heißt es oft. Aus drei wird manchmal auch zehn. Nur nicht zu lange in den Abgrund blicken.

Sprung vom Zehn-Meter-Turm: Wer traut sich?

Der Sprungturm in Millstatt

Weit weg ist die Wasseroberfläche, die blauglänzend ihre wahre Härte verschleiert. Kein Zufall, dass US-Schriftsteller David Foster Wallace in seiner Erzählung „Für immer ganz oben“ einen 13-jährigen Jungen beschreibt, der auf den Sprungturm kletternd die Ängste vor dem Erwachsenwerden durchlebt. Das Filmprojekt „10 Meter Turm“ zeigt Menschen im Entscheidungsdilemma – springen oder nicht. Entschlossenheit, Respekt bis Ängstlichkeit, die Mienenspiele sprechen Bände.

Springen? Ja? Nein! Ja, doch.  Im Kurzfilm „Ten Meter Tower“ von den Filmemachern Maximilian Aertryck und Axel Danielson können die Zuschauer Menschen beobachten, wie sie sich entscheiden vom Turm zu springen, oder eben nicht

Die Situation
In einem Schwimmbad wurden mehrere Kameras installiert. 67 Menschen, die noch nie auf einem 10-Meter-Turm, waren, wurden für das Experiment rekrutiert: Von Mädchen bis  zu alten Männern. Die Situation verdeutlicht das Dilemma: das Abwägen der eigenen Angst gegen die Peinlichkeit des Rückzugs.

Erfolgsformel

1-3-5-7-10. Diese aus Höhenmetern aufgetürmte Zahlenkombination war Inhalt ihrer unzähligen Trainingseinheiten und hat Marion Reiff zu beachtlichen Karrieresprüngen verholfen. An diesem Vormittag darf die 44-Jährige im Wiener Stadionbad als einzige vom „Zehner“ springen. Weil sie völlig unter Kontrolle hat, was sie tut. Kunstspringen nennt sich nicht von ungefähr ihre mit ästhetisch anmutender Körperbeherrschung ausgeführte Sportart. Aus dreieinhalb Salti – gehechtet – besteht ihr höchstbewerteter Sprung, der in der Vorstellung des Betrachters Hilflosigkeit und absolute Orientierungslosigkeit auslöst.

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Probesprung für den KURIER: I

Entdeckt beim Ballett, kam sie als Zehnjährige zum Wasserspringen. Vier Mal war sie Staatsmeisterin im Einzel, bei Olympia in Sydney 2000 und ein Jahr später bei der WM landete sie mit ihrer Partnerin Anja Richter im Synchronbewerb jeweils auf Rang vier, nur einen Wasserspritzer von einer Medaille entfernt.

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20 Sprünge hat sie während ihrer sportlichen Laufbahn vom höchsten Punkt vollführt – pro Trainingseinheit wohlgemerkt. Also unzählige Flüge in eine reichhaltige Erfahrung. Und Marion Reiff zeigt vor, wie an ihren ausgestreckten Armen die Hände ineinandergreifen, um den zwischen die Schultern geklemmten Kopf im Augenblick des Wasserkontakts zu schützen. „Schließlich sind die Schultergelenke viel mobiler als das Hüftgelenk.“

Gefahrenquellen

Für den ausschließlich mit den Füßen eintauchenden Laien gelte die plausible Faustregel: „Du musst versuchen, so zu landen, dass es nicht allzu sehr wehtut. Also Körperspannung halten, Arme anlegen und Pobacken zusammenzwicken.“ Weniger ausschlaggebend, ob es sich um schlaksige, oder eher rundliche Figuren handle, „wichtig ist, nicht wie ein nasser Sack ins Wasser zu plumpsen“. Geschichten von zerfetzten Bauchdecken seien zwar fantasievoll erfunden, „aber innere Verletzungen, oder eine schwer beleidigte Wirbelsäule können nie ausgeschlossen werden“.

Sprung vom Zehn-Meter-Turm: Wer traut sich?

Dilettanten wird empfohlen, die Landung mehr auf die Rückenpartie zu verlagern als den direkten Aufprall mit dem Hintern zu riskieren. Ein medizinisch unbegründeter Einlauf, oder langwierige Steißbeinprellungen könnten die Folge sein. Womit man bei Bezeichnungen wie „Kartoffel“, „Anker“, oder schlicht bei der „klassischen Arschbombe“ angelangt ist. Ein Bewerb , bei dem im Gegensatz zum Kunstspringen für insgesamt 13 Landepositionen vor allem ein Kriterium von Bedeutung ist: Je lauter und umfangreicher das Platschen, umso besser die Bewertung. Außerdem hechtete das Spektakel in die salonfähige Namensänderung – „Splash Diving“ nennt sich die Disziplin jetzt.

Angstlöser

Was bleibt? Die Begriffe Mutprobe und Selbsteinschätzung zu definieren. Marion Reiff, die Expertin, hat eine klare Meinung dazu: „Wenn man oben steht und unten schauen dich alle an, verlangt es genauso viel Mut, die Leiter wieder hinunterzusteigen.“ Gefährlich sei hingegen der Trend in Sozialen Medien, der junge Menschen anstachelt, sich gegenseitig mit irgendwelchen Waghalsigkeiten zu überbieten. Das richtige Maß zu finden, gehört zu Marion Reiffs Aufgaben. Neben ihrer Tätigkeit als Pilatestrainerin und Rolferin nimmt sie Kindern die Berührungsangst mit dem Wasser. „Nach Corona wurde es zu einem merklichen Problem, dass immer weniger Kinder Schwimmen lernen.“ Auch Sprünge sind erlaubt. Aus geringer Höhe und aus der elterlichen Überfürsorglichkeit in die Erfahrung, eigene Grenzen auszuloten.

Also auf drei – zumindest vom Einmeterbrett. Eins, zwei und platsch.

Interview

Was eine Entwicklungspsychologin zum  Thema sagt, lesen Sie hier.

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