Wie viel Hochhaus verträgt die Stadt?
Seit mehr als 25 Jahren lebt Eva Lindquist im Wohnpark Alt Erlaa.
Seit zehn Jahren hat sie hier auch ihr Home Office. Als Coach und Headhunter hilft sie Menschen – im übertragenen Sinn – auf höhere Ebenen zu kommen. Passend, dass sie das genau hier tut: von einem der bekanntesten Hochhäuser Wiens aus.
Typisch Alt-Erlaa
Jede Wohnung besitzt bis zum 12. Stock eine Art Vorgarten mit riesigem Betonbeet in Terrassenform. Das sieht nach 50 Jahren aus wie ein spektakulärer vertikaler Wald.
Alt Erlaa
Die Idee der "gestapelten Einfamilienhäuser" im Wohnpark Alt-Erlaa hatte Architekt Harry Glück.
Keller
Die Keller befinden sich nicht im Keller - sondern neben den Wohnungen oder in unteren Geschössen. Im "Keller" des Hauses befindet sich die Garage und unterirdische Druchgänge.
Die Weite, die Freiheit
"Die Höhe und die Offenheit, hier kann man noch durchatmen, obwohl es in der Stadt dicht bebaut ist", sagt sie.
Zu Besuch
Auf die Terrasse kommen Stieglitze, Amseln - manchmal auch Eichkätzchen.
Lift-Geschwindigkeit
Alt Erlaa hat bis zu 27 Stockwerke und ist bis zu 85 Meter hoch. Es gibt zahlreiche Lifte - einen nur für die Feuerwehr.
Schwimmbäder
Auf den Dächern gibt es 8 Outdoorpools. Aber auch Indoorpools in dem Riesenkomplex mit den drei 400 Meter langen Wohnblöcken.
Blick auf den Harry Glück-Park
"Man ist schon weit entfernt von der Straße, der Mensch erscheint klein", sagt Eva Lindquist.
Der Wohnpark ist mit seinen 85 Metern noch immer unter den 15 höchsten Häusern der Stadt – auch wenn der riesige Komplex bereits im Jahr 1985 gebaut wurde. Die U6-Trasse, auf die man von Lindquists Balkon hinabblickt, wirkt wie eine Modellbahn.
„Ich liebe die Offenheit und die Weite“, sagt die 58-Jährige. „In einer Stadt, wo alles dicht ist, bekommt man hier oben wieder Luft.“
45 Prozent
ist der Anteil der Einpersonenhaushalte in Wien. In Berlin und Hamburg liegt der Anteil bei 50 Prozent. Als Hauptzielgruppe für diese Wohnform (Türme) kommen junge Paare, Singles und ältere Personen infrage
50 Zentimeter
bis zu einem Meter können Hochhäuser schwanken wegen Höhe und Wetterverhältnisse. Manche Menschen reagieren darauf empfindlich und merken eine ständige Belastung
89 Jahre
ist es her, dass in Wien das erste Hochhaus (Herrengasse 6–8) gebaut wurde
6.000 Euro
kostet im Schnitt ein Quadratmeter im Hochhaus in Wien. Bei den Preisen ist die Spanne hoch und stark von der Lage des Objektes und der Stockwerkslage abhängig
Schnappatmung setzt hingegen oft bei jenen ein, die Hochhäuser wie jenes in Alterlaa ansehen (müssen). Werden Pläne für ein neues Projekt bekannt, dann setzt zumeist Aufregung ein: Hochhäuser regen auf. Anlässe dazu gibt es in Wien derzeit genug: Im 3. Bezirk wird unter anderem „The Marks“ gebaut, im 2. Bezirk der „Marina Tower“ (siehe Grafik unten). Doch verträgt das die Stadt noch? Oder braucht es die Hochhäuser gar?
Wohnpark Alt Erlaa, 85 Meter: Eine Stadt in der Stadt und der wohl bekannteste Bau von Architekt Harry Glück
Mischek Tower 110 Meter: Aus Betonfertigteilen gebaut, gilt als das höchste Fertigteilhaus der Welt
Hochhaus Neue Donau 150 Meter Auch als Seidler Tower bekannt – nach Schöpfer Harry Seidler
Stephansdom 137 Meter: Wahrzeichen Wiens und der Referenzbau, um Gebäudehöhen zu veranschaulichen
IZD-Tower:162 Meter: Im Internationalen Zentrum Donaustadt findet jährlich ein Stiegenhauslauf statt
Millennium Tower, 202 Meter: Noch bekannter als der Büroturm selbst ist das Shoppingcenter samt Kino
DC Tower, 250 Meter: Von Stararchitekt Dominique Perrault: Blickfang der Donauplatte, höchstes Gebäude Österreich
Mittel gegen Versiegelung
Um dem Hochhaus-Trend auf den Grund zu gehen, muss man zuerst verstehen, was ein Hochhaus ausmacht. Laut Wiener Bauordnung ist ein Haus ab 35 Metern Höhe ein Hochhaus. In Deutschland sind es 22 Meter – denn bis zu dieser Höhe reichen Feuerwehrdrehleitern. Ob ein Hochhaus aber überhaupt als solches wahrgenommen wird, hängt maßgeblich von seiner Form ab: Schlanke Türme stechen mehr heraus als breite Terrassenhäuser – und polarisieren deshalb auch oft auch mehr.
Und dennoch gelten gerade die Türme als die Lösung für boomende Metropolen.
Denn die Ressource Boden ist begrenzt. „Bei gleichbleibender Nachfrage nach Wohnraum müssen wir aufgrund der Bodenknappheit einfach dichter und höher bauen“, sagt Andreas Hofer vom Institut für Städtebau an der TU Wien.
Auch aus finanzieller Perspektive ergeben Hochhäuser Sinn: Die Preise für Grundstücke sind so gestiegen, dass es sich – trotz höhere Kosten für ein Hochhaus – lohnt, in die Höhe zu bauen.
Das zeigt sich etwa in Asien: In Hong Kong kostet ein Grundstück 30 Mal so viel wie der Bau eines Hauses, sagt Mladen Jadric, Architekt und TU-Professor, der auf der ganzen Welt lehrt: „Es erscheint logisch, dass man dann so hoch wie möglich baut.“ In Schanghai etwa gebe es aus diesem Grund bereits mehr Hochhäuser als in ganz Nordamerika.
All diese Argumente klingen plausibel – doch sie gelten nicht uneingeschränkt. Studien zufolge ist die Ökobilanz von Häusern mit sieben Etagen am besten, sagt Experte Hofer. Warum? Für ein Einfamilienhaus, in dem eben nur eine Familie lebt, sei der Ressourcenverbrauch hoch. „Aber die Bilanz wird nicht uneingeschränkt besser, je höher ich baue“, sagt Hofer.
Ab einer bestimmten Zahl an Stockwerken müsse etwa mehr Abstand zu den umliegenden Gebäuden eingehalten werden. Das verbrauche wieder Boden – und belaste die Ökobilanz.
Bosco Verticale (Mailand), 100 Meter: Mit 800 Bäumen auf Terrassen das Vorzeige-Gebäudebegrünungsprojekt
Q1 (Gold Coast), 322 Meter: Der Wohnturm hat die schnellsten Aufzüge Australiens
Lakhta Center: (St. Petersburg), 462 Meter: Gazprom-Hauptquartier, höchster Turm Europas
Central Park Tower (New York), 472 Meter: 2020 fertiggestellt, höchstes Wohnhaus der Welt
World Financial Center (Schanghai), 492 Meter: „Weltfinanzzentrum Shanghai“; „Flaschenöffner“ genannt
Burj Khalifa (Dubai), 828 Meter: Höchstes Bauwerk weltweit und jenes mit dem höchsten nutzbaren Stockwerk
Dazu kommt: Eine Wohnung hoch oben ist nicht für jedermann geeignet. „Wohnen im Hochhaus ist kein Familienwohnen. Kinder brauchen Bezug zum Leben“ sagt etwa Architektin Marta Schreieck. Sie arbeitet für das Wiener Büro „Henke Schreieck Architekten“ und hat die Triiiple-Türme an der Erdberger Lände entworfen, die derzeit fertiggestellt werden.
Auch für den sozialen Wohnbau seien Hochhäuser nicht unbedingt das geeignete Modell, sagt Schreieck.
Das würden Negativbeispiele aus den 60ern und 70ern zeigen – etwa die Großfeldsiedlung in Floridsdorf. Problematisch sei nicht nur die Anonymität in den Türmen, sondern auch die Gefahr der Vereinsamung. 800 bis 1.000 Menschen leben in so einem Hochhaus, das ist so viel wie ein ganzes Dorf. Es braucht also Strukturen, um die Gemeinschaft zu fördern.
Deshalb wurden im Triiiple Balkone, Schiebewände, Schiebetüren und französische Fenster eingebaut. Es gibt Gemeinschaftsterrassen, Gemeinschaftsküchen und – wie so oft auch Hochhäusern – ein Schwimmbad am Dach für alle. Dort sollen sich die Bewohner treffen können. Das dürfte ankommen: 87 Prozent der 500 Wohnungen in den Türmen sind bereits verkauft.
Mehrwert nötig
Damit ein Hochhaus aber verträglich ist, muss es auch der Umgebung etwas bringen. Peter Schmal, der als Direktor des deutschen Architekturmuseums alle zwei Jahre den internationalen Hochhauspreis vergibt, formuliert es so: „Ein Wohnturm muss sich wie ein guter Nachbar verhalten“. Was einen guten Nachbarn ausmacht? Im besten Fall gibt er einem etwas zurück, gliedert sich gut in die Umgebung ein.
Mehr Qualität
Monofunktionale Hochhäuser – also reine Wohn- oder Bürotürme – seien ein besonders starker Eingriff in ein Stadtviertel, sagt TU-Experte Hofer. Nach Dienstschluss sei ein Büro-Hochhaus quasi ausgestorben und somit kein Mehrwert für die Umgebung vorhanden. Ein Turm, in dem zum Beispiel Büros, Wohnungen und Gemeinschafts- bzw. soziale Einrichtungen untergebracht sind, bringe dagegen Qualität.
Wichtig dabei ist, dass diese Qualität auch für alle zugänglich sei, sagt Hofer. Soll heißen: Nicht nur ein Shoppingcenter schafft Mehrwert, sondern auch ein öffentlicher Park, der mit dem Turm mitgeplant wird.
Das hat der Wiener Gemeinderat auch in den Leitlinien für den Hochhaus-Bau (aus dem Jahr 2014) festgehalten. Einer der wichtigsten Punkte darin: Immobilienentwickler müssen einen Gegenwert dafür leisten, dass sie eine Hochhaus-Widmung erhalten. Das kann ein Kindergarten, ein öffentlicher Park oder ein bestimmter Anteil an Sozialwohnungen sein.
Die Stadt fixiert das mit den Projektbetreibern in sogenannten städtebaulichen Verträgen. Denn mangelnde Durchmischung bei der Nutzung ist immer wieder ein Problem. Das sagt auch Architekt Jadric – und nennt das Hochhaus Neue Donau als Beispiel: Auch wenn der Turm ein „Meisterwerk“ sei, so fehle um ihn herum der „Charakter des Stadtteils“.
Die Hochhäuser an sich seien nicht das Problem, wie ein Trend im US-Bundesstaat Texas zeigt: In der Hauptstadt Austin etwa würden Firmen in Einfamilienhäuser ziehen und deren ehemalige Bewohner in Hochhäuser – in deren Umfeld es eine viel bessere Infrastruktur gibt.
Aussterbende Bürotürme
Die Frage, wie Hochhäuser genutzt werden, wird sich künftig ohnedies noch stärker stellen. Das hat damit zu tun, dass sich Arbeitsroutinen – nicht zuletzt wegen Corona – verändern.
Ungewiss ist etwa, ob die Büroflächen in den Hochhäusern in Zukunft noch oder noch im bestehenden Ausmaß gebraucht werden. Ein Teil davon könnte in Wohnungen umgebaut werden. „Umbau ist oft besser als Neubau“, sagt Jadric.
In Tokio werden alle Hochhäuser, die älter als 20 Jahre sind gesprengt – um noch höher hinauszubauen. Das muss nicht sein.
Fest steht also: Damit eine Stadt Hochhäuser verträgt, müssen sie mehr sein, als bloß hoch und futuristisch. Früher habe man Glaskästen gebaut, heute müsse man an die Erderwärmung denken, sagt Architekt Jadric.
Was das in der Praxis bedeutet, kann man in Mailand anhand des Projekts Bosco Verticale sehen. Auf den 400 Terrassen der beiden Türme wachsen rund 800 Bäume und 4.500 Sträucher. Das verbessert das Mikroklima und bringt Lebensraum für Tiere in die Stadt zurück.
Auch Alt Erlaa gilt in dieser Hinsicht heute noch als positives Beispiel: Die Anlage ist üppig begrünt. Kein Wunder also, dass die Bewohner die „glücklichen Wiener“ genannt werden.
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