Die Stadt ist ein unlösbares Problem. Das wusste Platon bereits vor 2000 Jahren. Bis heute scheint sich an dieser Erkenntnis nichts geändert zu haben. Architekturtheoretiker Mathias Mitteregger vom Future Lab der TU Wien weiß: „Die perfekte Stadt wird es nie geben. Wichtig ist, Schritte in die richtige Richtung zu setzen und Lösungen zu finden.“
Das derzeit strittigste Thema zieht sich von der Wiener Innenstadt durch fast alle europäischen Städte. Raumplaner, Verkehrsforscher und Politiker wissen: Die Straße muss neu organisiert werden. Mitteregger: „Der Druck ist enorm. Neben Fußgängern, Rad- und Autofahrern drängen auch Uber, Carsharing und E-Scooter auf die Straße.“
Gernot Stöglehner, Institutsleiter Raumplanung an der Universität für Bodenkultur Wien: „Erdgeschoß und Straßenraum können nicht miteinander in Beziehung gebracht werden, wenn alles vollgeparkt ist.“ Für eine Belebung brauche es weniger Autos und mehr Platz zum Gehen und Radeln.
Zudem ist der Klimawandel in vollem Gange. „Enorme Hitze und Starkregen in innerstädtischen Grätzeln machen die Herausforderungen der Klimakrise spürbar“, erklärt Verkehrsplanerin Barbara Laa.
Die Coronakrise und temporär für Pkw gesperrte Straßen haben die Diskussion um den öffentlichen Raum in ganz Europa entfacht. „In der Stadt haben die Menschen kein privates Grün vor der Haustür, daher muss das Straßennetz adaptiert werden, sodass hochqualitativer Lebensraum entsteht“, sagt Mitteregger.
Barbara Laa spricht zudem eine gerechte Aufteilung des öffentlichen Raums an: „Fahrbahnen und Parkplätze für Autos zu verringern, sind große Veränderungen. Dafür braucht es ein Konzept, das keinen ausschließt.“ Ein nachhaltiges Umdenken von Städten und Mobilität sei aber unausweichlich. Laa: „Auch in der Stadt der Zukunft wird es Autos geben, aber sie werden nicht mehr vor der Haustür, sondern am Siedlungs- oder Stadtrand geparkt.“
Belebte Erdgeschoßzonen
Diese Maßnahme bringt zudem Leben in leer stehende Erdgeschoßzonen.
Dem pflichtet Zivilingenieur Hermann Knoflacher bei: „Mit der Fußgängerzone steigen die Umsätze. Viele Brieftaschen sind zu Fuß unterwegs. Mit dem Auto ist die Brieftaschendichte dahin.“ Außerdem werde der Hausbestand aufgewertet. Auch die beiden Immobilienexperten Walter Wölfler (CBRE) und Thomas Belina (Colliers International) sehen einen positiven Effekt auf die Immobilienpreisentwicklung in verkehrsberuhigten Zonen – wenn das Konzept stimmt.
Die perfekte Stadt der Zukunft
Wie die Stadt der Zukunft aussehen kann, weiß Aglaée Degros, Institutsleiterin Städtebau an der TU Graz. Sie hat die Vision einer lebendigen Stadt mit begrünten Straßen, wo Kinder spielen. Die Luft ist sauber, ebenso öffentliche Plätze. „Oft werden urbane Räume mit einem schmutzigen Ort assoziiert – das muss aber nicht so sein.“
Hitzeinseln werden durch Bäume und Wasser vermieden und jeder Bewohner erreicht binnen 15 Minuten eine Infrastruktur mit Nahversorger, Kinderbetreuung, Co-Working-Spaces und Grünraum. „Die Stadt der Zukunft braucht Straßen, die unterschiedliche Nutzungen zulassen und Raum, wo die Menschen zusammen kommen können.
Sechs Beispiele von Wien über Paris bis Brüssel und Amsterdam...
Wiens verkehrsberuhigte Zone
Bis zu 60.000 Menschen werden zu Hochzeiten auf der Rotenturmstraße im ersten Wiener Bezirk gezählt. Seit November 2019 ist die Shoppingmeile eine Begegnungszone. Die Neugestaltung regelt eine gleichberechtigte Nutzung aller Verkehrsteilnehmer und limitiert das Tempo auf eine Geschwindigkeit von 20 km/h.
Fußgänger haben vier Meter Platz auf den Gehsteigen. Um sommerlichen Hitzetagen entgegenzuwirken, wurden 16 Bäume gepflanzt und ein Wasserbrunnen aufgestellt. Auch die Bewohner konnten mitreden. Im Rahmen von zwei Veranstaltungen wurden Wünsche und Bedürfnisse geäußert, die in die Planung der neuen Rotenturmstraße eingeflossen sind.
Autofreie Innenstadt in Oslo
Von 2015 bis 2019 wurde das 1,3 Quadratkilometer große Stadtzentrum in Oslo umgebaut. Das Ziel: 700 Parkplätze entfernen. Dort finden sich nun Fahrradstreifen, Bänke, Grünflächen und kleine Parks. Insgesamt drei Fußgängerzonen wurden renoviert und mehrere Straßen sowie Plätze für private Pkw dauerhaft gesperrt.
Zudem können sich Kinder an fünf neuen Spielplätzen im Stadtzentrum austoben. Nachdem das Projekt abgeschlossen war, hat unmittelbar der Baustart für die nächsten beiden Baustellen begonnen: die Stadtviertel Tøyen und Grønland sollen bis 2023 mit mehr Grün ausgestattet und fußgänger- sowie fahrradfreundlich gestaltet werden.
Barcelonas Superblocks
Seit den 1990er Jahren hat Stadtplaner Salvador Rueda an dem Konzept der Superblocks getüftelt. Dafür fasst er neun Wohnblocks zu einem Superblock zusammen und lenkt den Verkehr um sie herum. Lediglich Müllabfuhr, Einsatzfahrzeuge, Buslinien und Anrainer dürfen passieren.
Seit 2017 wird das Konzept umgesetzt. Zwei der insgesamt 500 geplanten verkehrsberuhigten Zonen sind fertig. Landschaftsarchitektin Sigrid Ehrmann lebt in Barcelona. Sie weiß: „Im Viertel Gràcia mussten Fußgänger teilweise nach einem Gehsteig suchen. Jetzt ist alles frei und Kinder spielen auf der Straße.“ Auch die Luftverschmutzung wurde deutlich verringert und die Fahrradfahrer haben genügend Platz zwischen den neu gepflanzten Alleebäumen.
Flaniermeile statt Zugstrecke in Paris
La Petite Ceinture heißt die ehemalige Zugstrecke, die das Stadtzentrum innerhalb des Boulevards des Maréchaux umrundet. Die Schienen waren seit 1934 ungenützt und von wild wachsenden Bäumen und Sträuchern zugewuchert. Seit 2008 wurde das Gebiet saniert.
Seitdem haben sich Restaurants, Geschäfte und öffentliche Gärten angesiedelt, die den Parisern als Orte der Entspannung dienen. Das letzte Teilstück wurde im Juni 2020 eröffnet. Die Stadtregierung hat sich außerdem zum Ziel gesetzt, Paris zu 100 Prozent fahrradtauglich zu machen. Erster Schritt: Das bisher stark befahrene Seine-Ufer wurde bereits für Autos gesperrt.
Radwege überall in Amsterdam
Amsterdam gilt als Vorbild für eine fair aufgeteilte Straße. Vor allem Fahrradfahrer finden genügend Platz. Mathias Mitteregger: „Die Entwicklung guter Infrastruktur dauert jahrelang. Daher ist eine klare Zieldefinition wichtig.“
Die Stadt Amsterdam hat den Plan, die Fahrradstruktur auszubauen, konsequent durchgesetzt und jede Kreuzung und Straße, die zu sanieren war, fahrradgerecht umgebaut. „Nach Jahrzehnten hat sich der Kreis zu einem beeindruckenden Fahrradnetzwerk geschlossen“, sagt Mitteregger. In den kommenden Jahren sollen zudem 11.000 Parkplätze in der Innenstadt aufgelassen werden, indem auslaufende Parkpickerl nicht mehr verlängert werden.
Autofrei: Brüssler Place Dumon
Statt 93 parkenden Autos, einem schmalen Gehsteig und Fahrstreifen für Autos ist der Place Dumon in Brüssel heute eine Begegnungszone. Individual- und öffentlicher Verkehr müssen sich einen Fahrstreifen teilen, dafür haben Fahrradfahrer und Fußgänger genügend Platz. Bänke unter Bäumen sollen zum Verweilen einladen.
Für optische und tatsächliche Abkühlung im Sommer sorgen Wasserfontänen. Da der Place Dumon ein Verkehrsknotenpunkt ist und von Straßenbahnen und Buslinien durchquert wird, stand die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer in Vordergrund. Um diese gewährleisten zu können, wurde die maximale Geschwindigkeit auf 20 km/h reduziert.
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