Tier ist nicht gleich Tier. Dank einer erstaunlichen Verdrängungsleistung gelingt es uns, das Leid in der industriellen Fleischproduktion beiseitezuschieben und zugleich Haustiere in absurden Ausmaßen zu verwöhnen. Warum sind wir so schizophren im Umgang mit Tieren? Kulturwissenschafter Thomas Macho über den Kannibalen in uns.
KURIER:Das Thema Tiere essen zieht sich durch die Kulturgeschichte. Wann hat der Mensch damit begonnen?
Thomas Macho: Es gibt viele Mythen über den urmenschlichen Jäger. Der Anthropologe Robert Ardrey bezeichnete den Australopithecus (Vormensch, Anm.) als „Killeraffe“. Heute weiß man, dass Menschen zwar wahrscheinlich seit Jahrtausenden Fleisch gegessen haben, aber zunächst das, was die Raubtiere überlassen haben.
Der Mensch war also ursprünglich Aasfresser?
Richtig. Wobei am Anfang die Erfahrung stand, selbst gefressen zu werden. Die Jagd kam, als Menschen mit Feuer umgehen konnten. Ab da konnten wir uns gegen Raubtiere durchsetzen und wurden aktive Jäger.
Dass wir überhaupt Tiere essen, könnte man damit begründen, dass wir die entsprechenden Mahlwerkzeuge haben.
Ja. Wir sind Tiere und wir essen Tiere.
Aber wie und welche Tiere wir essen, ist doch bemerkenswert. Wir verurteilen Länder, in denen Hunde gegessen werden, essen aber mit Schweinen ausgerechnet jene Tiere, die uns am meisten ähneln.
Das ist ziemlich unheimlich. Die Kulturgeschichte kennt dazu verschiedene Theorien. Das Wort Kannibalismus taucht im Zusammenhang mit Riten immer wieder auf, ebenso die Vermutung, dass Schweinefleisch ähnlich wie Menschenfleisch schmecke. Damit könnten die Schweinefleischtabus im Nahen Osten zusammenhängen.
Wir essen Tiere, weil wir Tiere sind. Aber wir sind doch anders. Maßen wir uns an, andere Tiere zu essen, weil wir uns für bessere Tiere halten?
Es gab diesen Gedanken im Lauf der Geschichte. Heute ist das Hauptproblem aber, dass wir nicht mehr wahrnehmen, dass wir Tiere essen.
Weil wir in Plastikfolie verschweißte Fleischstücke kaufen, deren Form nicht einmal entfernt an die Gestalt eines Tiers erinnert?
Ja. Früher hatten Jäger oder Hirten, die mit Tieren zu tun hatten, eine ganz andere Beziehung zu ihnen. Man tötete, opferte, verleibte sich das Fremde, also das Tier, bewusst ein. Manche jagenden Ethnien führten sogar regelrechte „Unschuldskomödien“ auf, wo sie dem getöteten Tier versicherten, wie sehr sie seinen Tod bedauern und gar nicht wissen, wer ihn herbeigeführt habe.
Abgesehen von der „Unschuldskomödie“ ist Jagen oder selbst Schlachten doch eine wesentlich ehrlichere Art des Tiere Essens.
Natürlich. Wir haben eine Welt, in der wir in der Fantasie unentwegt mit Tieren zu tun haben, allein, wenn wir an die Millionen von Katzen- und Hundevideos denken. Und dann gibt es eine andere Welt, die der Nutztiere, die industriell und auf grausame Art und Weise produziert und getötet werden. Letztere nehmen wir so gut wie gar nicht wahr.
Wir teilen die Tiere also ein. Hier die Schoßtiere, dort die Industrietiere?
Ja. Die Fleischindustrie ist im Übrigen auch für Menschen grausam, das ist uns auch in der Pandemie klar geworden, als wir bei den Clustern in den riesigen Fleischfabriken gesehen haben, unter welchen Bedingungen Menschen da arbeiten.
Ist uns das wirklich klar geworden oder haben wir es nach einer Schrecksekunde wieder verdrängt? Die Prognosen zum weltweiten Fleischkonsum, der großteils mit industrieller Massentierhaltung befriedigt wird, deuten auf Letzteres hin.
Ja, da sprechen wir von einer Masse, die man sich kaum mehr vorstellen kann. Auch wenn wir wissen, welche Folgen das nicht zuletzt für den Klimawandel hat (laut Vereinten Nationen ist Massentierhaltung der größte globale CO2-Treiber, Anm.).
Die mechanisierte Massenschlachtung von Tieren ist jung, sie ist eine Praxis der industriellen Moderne.
Ich selbst bin noch in einer Familie groß geworden, in der man selbstverständlich Fleisch am Sonntag aß und sonst nicht.
Fleisch war also etwas Besonderes und sollte es auch wieder werden. Nun hört man aber von vielen Politikern immer wieder den Appell, das Schnitzel müsse leistbar bleiben.
Es gibt Gott sei Dank Ausnahmen. Der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat sich jetzt gerade für einen anderen Umgang mit Fleisch ausgesprochen. Der Umwelt, den Tieren aber auch den Menschen zuliebe. Er sagt, mit Billigfleisch würden sich gerade Einkommensschwache in einer Art und Weise ernähren, mit der sie viele Lebensjahre verlieren. Er hat vollkommen recht.
Sind Sie optimistisch, dass es ein Umdenken gibt?
Ja. Veganismus ist nicht für alle ein Ausweg. Warum nicht auch synthetisch hergestelltes Fleisch ausprobieren. Wir können es uns nicht leisten, jetzt ideologisch zu debattieren. Vor allem aber muss Fleisch teurer werden. Das Schnitzel soll leistbar bleiben, aber nicht jeden Tag.
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