Voll dekoriert: So wohnt Österreich
My Home is mei Kastl.
Seit dem Corona-Ausbruch verbringen die meisten Menschen mehr Zeit in ihren eigenen vier Wänden, als ihnen lieb ist. Stichwort Homeoffice. Und weil sie so viel daheim sind, legen sie offenbar vermehrt Wert aufs Interieur. Und weil Forschungsergebnisse fehlen, verlassen wir uns hier auf die Praxis. "Die Menschen wollen es wieder schön haben. Sie entdecken Bilder, und bringen sie uns vorbei", erklärt die Frau im Rahmengeschäft einer Kundin.
Ähnlich sieht das Designerin Michaela Theresia Martinek: "Das Verhalten ändert bereits den Markt. Die eigenen vier Wände sind wieder in den Fokus gerückt", erklärt die Expertin, die auch an der Universität für angewandte Kunst Wien lehrt. "Menschen brauchen ein Zimmer mehr. Eines fürs Homeoffice, einen Raum, bei dem der Hintergrund für die Videokonferenzen stimmt, sowie einen Raum, in den man sich aus der Arbeitswelt zurückziehen kann."
Wohncoach Andrea Sova bemerkt das auch: Der Esstisch wird während der Krise zum Arbeits- und Schultisch. Da tauchte bald die Frage auf: Wie halte ich das aus? Wie schaffe ich Raum? Wohnen zählt zu den Grundbedürfnissen. Aber es muss leistbar sein. Das gilt für den Wohnraum und die Einrichtung gleichermaßen.
"Das Verhalten ändert bereits den Markt. Die eigenen vier Wände sind wieder in den Fokus gerückt."
3.800 € gab der Österreicher im Durchschnitt im Jahr 2019 laut RegioData Research für die Wohnung aus. Zählt man die Heizungs- und Energiekosten mit, so beträgt der Anteil der Wohnkosten 21 Prozent an den Konsumausgaben gesamt. Die Ausgaben für die Innenausstattung betrugen rund 1.600 Euro pro Kopf im Jahr.
Schön angeräumt
Beim Einrichten wird der Geschmack laut Martinek heutzutage einerseits von großen Möbelkonzernen gelenkt. Andererseits: "Wir finden heute in unzähligen, neuen, kleinen Läden (Einzelunternehmen, Ketten, Hotels etc.) Dekogegenstände zum ‚Mitnehmen‘, mit denen wir unsere Wohnungen ‚individualisieren’." Das können eine neue Farbe, Pflanzen, ein Wandtattoo, Kerzenständer, Tassen, Gläser oder Möbelknöpfe sein. Was immer bestehen werde, seien "ein paar individuelle Sammlerstücke".
Und es bleibe – siehe fehlender Platz – eine Frage des Stauraums. "Die meisten Wohnungen nehme ich als überbordend angeräumt wahr", sagt Martinek.
"Nur Mut", sagt Homecoach Andrea Sova. Das sind ihre Tipps, auch für Menschen mit wenig Budget:
Wandfarbe
Ein frischer Anstrich gefällig? Farbe heißt nicht, dass es knallig sein muss und flächendeckend. Überlegen Sie sich: In welcher Farbwelt fühlen Sie sich wohl? Welche Farben tragen Sie gerne? Haben Sie sich entschieden, immer Farbproben auf weißem Karton anbringen und an die Wand heften, um zu sehen, wie sich der Farbton im Lauf des Tages entwickelt
Accessoires
Kissen und Plaids machen den Wohnbereich gemütlich. Sie dürfen ruhig unterschiedlich sein: Bleiben Sie aber
entweder in der Farb- oder
in der Musterwelt
Blumen
Denken Sie an Trockenblumen. Speziell für den Herbst: eingefärbte Zierkürbisse oder Disteln in einer schönen Vase
Nicht auf das Licht vergessen Eine Deckenlampe reicht oft nicht. Mehrere Lichtquellen lassen die Räume besser wirken, etwa Dekorationsleuchten oder Leselicht
Was sich auch bei den Ausgaben widerspiegelt, wie die Statistik von RegioData Research zeigt. Der Dekobereich ist stark steigend. Am ehesten hält sich der Österreicher beim Kauf von Möbeln, Teppichen und Böden zurück.
Der KURIER hat bei den größten Möbelhändler im Land (XXXLutz, Ikea, Kika/Leiner) nach den meistverkauften Stücken gefragt und mit den Aussagen der Expertinnen versucht, ein typisch zeitgemäßes österreichisches Wohnzimmer einzurichten.
Die Werbeagentur Jung von Matt hat schon seit 2004 ein durchschnittlich-deutsches Wohnzimmer der – no na – Familie Müller in ihrem Hamburger Büro stehen. Die Müllers haben es – wohl wie auch die Österreicher – gerne schön gemütlich. Seither haben die Kreativen den Raum trotz der deutschen Gemütlichkeit zwei Mal streng nach deutscher Gründlichkeit nach statistischen Daten umgestaltet. So ist etwa der Veloursteppich verschwunden und durch einen Laminatboden ersetzt worden.
Ganz verschwunden ist der CD-Turm. Und wer nennt heute überhaupt noch einen Videorekorder sein Eigen? Auch der PC-Tisch in der Wohnzimmerecke ging den Weg alles Irdischen. Weil die Müllers mit dem Laptop auf der Couch sitzen. Die ist übrigens seit 2004 in Richtung Fernseher ausgerichtet. Das wird sich so schnell nicht ändern. Wie auch die Liebe zu Familienfotos.
Familienfotos
Es könnte sein, dass die Familienbilder ein wenig untergehen. Denn es ist kein Zufall, dass sich die Couch auf den Fernseher ausrichtet: Beliebt sind laut Mediamarkt TV-Geräte mit einer Bildschirmdiagonale von 55 Zoll. "Wir registrieren aber auch ein steigendes Interesse der Österreicher und Österreicherinnen an größeren TV-Geräten und verzeichnen einen Anstieg bei der Nachfrage nach Modellen ab 65 Zoll", sagt eine Unternehmenssprecherin. Sova hat die Erfahrung gemacht: "Männer wollen den großen Bildschirm."
45 Prozent der Österreicher lebten 2018 laut Statista in Häusern, 8,5 Prozent in Doppelhäusern und 46 Prozent in Wohnungen
Das kleinste Haus Wiens befindet sich übrigens in der Burggasse Nr. 3. Das zweistöckige Haus hat gerade einmal 14 Grundfläche
5,6 Euro zahlten die Österreicher 2017 im Durchschnitt Nettomiete pro Quadratmeter, hielt die Statistik Austria fest. Inklusive Betriebskosten waren es 7,6 Euro pro
45,3 Quadratmeter beträgt die durchschnittliche Wohnfläche pro Person (Statistik Austria). Das durchschnittliche Wohnzimmer in einem Haushalt ist etwa 27 groß
Ein bisserl mehr darf der Besitzer eines der teuersten Lofts in Wien bewohnen: Genauer gesagt sind es insgesamt 2.000 auf dem Börseplatz, 2018 wurde die Wohnung um 40 Millionen Euro angeboten
Ein bisserl billiger wollen es andere. Schätzungsweise alle fünf Sekunden kauft jemand irgendwo auf der Welt ein Billy Regal, sagt IKEA. Beachtlich, wenn man bedenkt,
dass es schon im Jahr 1979 ins Sortiment des Möbelhändlers kam
50 Millionen Stück vom Thonet-Sessel „Stuhl Nr. 14“ wurden bis 1930 verkauft. Er gilt bis heute als Stuhl
aller Stühle
Verändert hat sich nicht nur die Ausrichtung der Couch, auch das Material, das von Innenarchitekten im Qualitätssegment im Innenbereich verwendet wird. Wie die Qualität der Stoffe. Sie sind strapazierfähiger geworden – und wirken anders. "Samt ist auch nicht mehr so schwülstig", sagt Sova. Leder hat Strukturen, die es nicht mehr so kalt ausschauen lassen.
Schön praktisch
Im Großen und Ganzen – glaubt Designerin Martinek – ist die Qualität aber im Laufe der vergangenen Jahre nicht angestiegen. "Möbelstücke sind mehr und mehr austauschbar, normiert, aus Platten gebaut, wie Sie das bei Küchen derzeit leicht nachvollziehen können. Vollholz-Möbel haben früher für Generationen gehalten." Heute gehe man mehr davon aus, dass ein Schrank gerade bis zur nächsten Übersiedlung hält.
Schön geteilt
Bei ihrer Arbeit für ihre Kunden bemerke sie, dass es „die Besonderheit von unterschiedlichen Einrichtungs- Stilen innerhalb dieses kleinen Landes“ gebe.
Im Westen wollen die Kunden wohnen wie in der Werbung oder in Hochglanzmagazinen. „Chic!“, wie sie sagt. "Im Osten Österreichs hingegen komme ich zu Menschen, die oft Erbstücke besitzen: eine Kredenz, einen Spiegel mit Blattgoldrahmen, einen alter Luster der Urgroßtante, ein Bild von einem bekannten oder unbekannten Künstler." Ob West oder Ost: Manchmal jahrelang unbeachtete Schätze werden jetzt, während wir uns in die Wohnungen zurückziehen müssen, wieder entdeckt. Und dann steht man wieder im Rahmengeschäft und sucht aus, um seine eigenen vier Wände noch ein bisschen hübscher zu machen.
Denn dieser Winter könnte sehr lange werden.
Nachgefragt beim Homecoach: Weiße Wände überall
Den meisten Menschen fehle die Zeit fürs Einrichten, sagt Andrea Sova. Sie wird engagiert, wenn Menschen ihr Zuhause verändern wollen. Oder auch, wenn sich Paare ob der Gestaltung nicht einig sind. Die Kunden seien heute vorab besser informiert als noch vor ein paar Jahren. Ihre Wunschvorstellungen haben sie oft schon auf Instragram oder Pinterest gesehen.
KURIER: Welche Frage gibt den meisten Ihrer Kunden den Anstoß, Sie anzurufen?
Andrea Sova: Ich werde oft wegen des Stauraums gerufen. Der klassische Wandverbau in dunkler Farbe gefällt nicht mehr. Oder der Wohnraum wird kleiner, weil die Familie größer wird. Stauraumplanung ist wichtig. Hier zahlt sich eine Investition aus. Weil wir fühlen uns wohler, je aufgeräumter es ist.
Sie sehen viele Wohnungen und Häuser, gibt es einen österreichischen Stil?
Weiße Wände. Sie sind vorherrschend. Aus verschiedenen Gründen, etwa weil man sich bei einer Mietwohnung nicht traut, etwas zu verändern. Das finde ich schade, weil Farben ein anderes Gefühl geben. Hellweiß ist eine ungemütliche Farbe. Dabei gibt es auch weiß in Nuancen. Ich würde mir die Menschen mutiger wünschen, offener für neue Dinge und Farben.
CD-Ständer, Computertische etcetera sind in den vergangenen Jahren aus den Wohnzimmern verschwunden. Was wird nie verschwinden?
Das Sofa in allen Formen. Es ist ein Treffpunkt für die Familie. Und es ist – durch die Laptops – auch immer mehr zum Arbeitsplatz geworden. Gerade jetzt im Homeoffice.
Zeig mir, wie du wohnst, und ich sag dir, wer du bist
Auch die Marktforscher schauen in die Wohnzimmer. Etwa Integral für den Wohnungsbericht der Buwog, die etwa große Immobilienprojekte umsetzt. Alter, Geschlecht, der kulturelle und finanzielle Hintergrund sorgen für unterschiedliche Anforderungen.
Das Wohnzimmer als Rückzugsort verrät viel über Menschen. Die Einrichtung ist Ausdruck eines Lebensstils. Manche würden niemals auf die Biedermeier-Erbstücke verzichten, andere sind froh, wenn sie Perserteppiche und Antiquitäten ausmustern können.
Wer wohnt wo?
Einfach (groß)bürgerlich: Dieses Zimmer gestaltet wahrscheinlich
ein konservativer Mensch, dem Traditionen wichtig sind.
Wer wohnt wo?
Dieses Zimmer könnte von einem Individualisten bewohnt werden. Unkonventionelle Akzente – wie das Rad im Raum– setzt er bewusst.
Wer wohnt wo?
In diesem Wohnzimmer fühlt sich wahrscheinlich ein leistungsorientierter Mensch wohl: Ihm ist Wirkung und Repräsentation wichtig.
Wer wohnt wo?
Der Wandverbau ist noch da: Der Bewohner dieser Wohnung könnte Wert auf Stabilität, Sicherheit und Ordnung legen.
Wenn die Marktforscher einen Blick auf die Wohnungen werfen, können sie sagen, wer darin wohnt und worauf er Wert legt. Auf Avantgarde etwa oder auf Natürlichkeit. Eingeteilt wird in Gruppen. Das reicht von Traditionalisten, die Sicherheit und Ordnung lieben. Ihnen ist Gemütlichkeit wichtig. Bis zu Individualisten, die ständig auf der Suche nach neuen Erfahrungen sind. Sie sind kreativer – und platzieren etwa ein Surfbrett oder ein Fahrrad im Wohnzimmer.
Andere wollen eine große Wirkung erzielen, wenn sie ihr Wohnzimmer den Gästen präsentieren. Oder einfach gemütlich um einen großen Tisch sitzen. Ihr Blick könnte auf eine eher ländliche Einrichtung fallen. Und manche verweigern die Konventionen.
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