Psychologin: "Kindern fehlt noch die Einsicht in die Gefährlichkeit"
Der Artikel ist Teil einer KURIER-Serie zum Schulstart. Hier finden Sie alle Statistiken zu Unfällen am Schulweg und wie Sie Ihre Kinder auf den Verkehr vorbereiten können, und hier, warum sich manche Kinder schwerer mit dem Schulstart um 8 Uhr tun als andere.
Für über eine Million Kinder beginnt heuer im September das Schuljahr. 93.000 davon kommen in die erste Klasse Volksschule. Jeden Tag müssen die Kinder dabei ihren Schulweg gehen, viele davon alleine. Welche Gefahren lauern, warum wir Kinder nicht als kleine Erwachsene sehen dürfen und wie sie zu verantwortungsvollen Verkehrsteilnehmern werden: Diese Fragen beantwortet Verkehrspsychologin Bettina Schützhofer, Geschäftsführerin von "sicher unterwegs" Verkehrspsychologische Untersuchungen GmbH.
KURIER: Frau Schützhofer, wie ticken Kinder im Verkehr?
Bettina Schützhofer: Zwei Sachen sind ganz wichtig: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, und sie nehmen Räume ganz anders wahr als wir Erwachsenen. Sie haben eine andere Perspektive. Für Kinder ist der Verkehr außerdem maximal langweilig, sie können nichts angreifen, nicht spielen, sie nehmen den Verkehr auch ganz anders wahr. Wenn Eltern mit ihren Kindern den Schulweg gehen, ist es ganz wichtig, sich einmal hinzuhockerln, auf Augenhöhe mit dem Kind zu gehen und zu überprüfen: Was sieht mein Kind aus seiner Perspektive wirklich? Da kommt es dann schon vor, dass mal ein anderer Schulweg gewählt wird, weil man erkennt: Da sieht man als Kind ja wirklich nichts.
Wie gut wissen Kinder über den Verkehr im Volksschulalter eigentlich Bescheid?
Kinder haben oft ein großes Wissen. Aber anwenden können sie es ohne Anleitung und Übung in der Regel erst mit 12 Jahren. Für die Anwendung des Wissens bedarf es nämlich der entsprechenden Hirnreifung. Und die hat das Kind erst mit 12. Kinder wissen etwa, dass eine grüne Ampel bedeutet, dass sie gehen können. Dann passiert es, dass eine Ampel mit einer kurzen Grün-Phase auf Rot springt, und das Kind bleibt automatisch stehen. Weil es gelernt hat, dass man bei einer roten Ampel stehen bleibt. Deshalb ist es ganz wichtig, den Kindern immer wieder Sinn und Zweck von Regeln zu erklären. Es braucht einfach Wiederholungen. Und wenn ein Kind den Schulweg gut kann, bedeutet es noch nicht, dass es auch einen anderen Weg alleine gehen kann. Sie können Gelerntes in einer neuen Situation nicht anwenden, das geht erst ab ca. zwölf Jahren. Aber Volksschulkinder halten sich anfangs noch sehr gerne an Regeln, je früher sie die Regeln erkennen und verstehen, umso besser halten sie sich später dran.
Wie unterstütze ich mein Kind im Verkehr im Allgemeinen und am Schulweg im Speziellen?
Mit gutem Beispiel vorangehen. Auch wenn Sie schon von weitem den Überblick über die Kreuzung haben: Bleiben Sie trotzdem an der Gehsteigkante stehen. Verschaffen Sie sich gemeinsam mit ihrem Kind den Überblick. Stellen Sie Kontrollfragen an der Kreuzung. Etwa: Siehst du den Fahrradfahrer? Siehst du dieses Verkehrszeichen? Lenken Sie die Aufmerksamkeit des Kindes auf verkehrsrelevante Dinge. Dann wird die Blicksuche immer besser, weil Kinder das lernen. Kinder wissen ja nicht von alleine, worauf sie schauen und achten sollen.
Wie nehmen Kinder den Verkehr wahr?
Bei Kindern zu Beginn der Volksschule verschwimmen Phantasie und Realität noch. Dinge werden mit Leben versehen, Kinder halten sich für Superman oder Lilifee. Das lässt sich nicht abschalten, wenn das Kind auf die Straße geht. Kinder nehmen auch Müll am Gehsteig viel eher wahr, oder wenn es stinkt, als den Verkehr oder ein Verkehrsschild. Deshalb muss die Aufmerksamkeit des Kindes immer wieder darauf gelenkt werden.
Können Kinder Gefahren richtig einschätzen?
Den Kindern fehlt noch die Einsicht in die Gefährlichkeit, das Gefahrenbewusstsein wird erst mit acht Jahren besser. Ein Kind mit sechs Jahren merkt im Normalfall erst dann, dass es in Gefahr ist, wenn es keine Chance mehr hat zu reagieren. Wenn die Reifen quietschen, erkennt das Kind: Es ist gefährlich. Aber dann ist es zu spät. Mit acht Jahren wird es Gefahren erkennen können, mit zehn bis zwölf auch andere, weniger gefährliche Routen wählen. Aber erst mit 14 Jahren ist die Reaktionszeit etwa auf Erwachsenen-Niveau.
Das gilt auch für das Einschätzen von Geschwindigkeit und Distanz?
Bei einem sechsjährigen Kind ist das tiefenperspektivische Sehen noch nicht voll entwickelt. Es kann nicht erkennen, dass ein herankommendes Auto größer, ein wegfahrendes kleiner wird. Es assoziiert Geschwindigkeit mit Farbe, haben Studien ergeben: Ein dunkles Auto ist für ein Kind weiter weg als ein helles. Deshalb ist es wichtig, beim Queren von Straßen andere Anhaltspunkte mitzugeben. Etwa: Wenn das Auto bei dem blauen Haus fährt, kannst du noch gehen, danach nicht mehr. Erst mit neun bis zehn Jahren sind Kinder aus ihrer Entwicklung heraus in der Lage, Geschwindigkeit und Distanz richtig einzuschätzen. Wobei wir uns auch als Erwachsene noch damit schwertun.
Kann ein sechsjähriges Kind dann den Schulweg überhaupt alleine bewältigen?
Mit einem klaren Ja lässt sich das nicht für alle Kinder beantworten. Es wird Wege geben, wo das geht. Wir empfehlen unser 5-Schritte-Training, wenn man das durchgespielt hat, kann man das Kind langsam auch alleine gehen lassen. Sie müssen nur beachten, dass sich Kinder alleine und unbeobachtet anders verhalten, deshalb soll das Kind den Schulweg auch einmal alleine gehen, und die Eltern beobachten das aus sicherer Entfernung. Eigene Erfahrung im Straßenverkehr ist sehr wichtig für Kinder, um das richtige Verhalten zu erlernen. Bei aktiver Mobilität erfährt das Kind, worauf es achten muss, nur so kann sich ein verantwortungsbewusstes Verhalten im Straßenverkehr entwickeln. Aber ob ein Kind alleine gehen kann, hängt von vielen Faktoren ab. Etwa der Länge des Schulwegs, der Schwierigkeit, der Gefahrensituation, von der Verkehrsdichte und der vorhandenen Infrastruktur und auch von der Persönlichkeit des Kindes. Wichtig ist, die Kinder schrittweise heranzuführen, sie nicht zu überfordern und sie nicht zu ängstigen. Angst lenkt nämlich sehr stark ab.
Mit Freunden gehen: Gut oder gefährlich?
Wenn jedes Kind in der Gruppe eine Aufgabe hat, ist es gut. Wenn die Kinder blödeln, etwa einander die Haube runterreißen, ist es auch gefährlich. Gut ist immer, wenn größere Kinder dabei sind, also zum Beispiel ältere Geschwister. Die Studien sagen ja, dass Kinder grundsätzlich den Schulweg gerne aktiv zurücklegen. Sie wollen das. Und nur so können sie auch einen Verkehrssinn entwickeln. Wenn wir die „Vision Zero“ (Fachbegriff für null Verkehrstote, ein berührendes Video sehen Sie hier) verwirklichen wollen, brauchen wir Kinder, die den Schulweg aktiv und sicher bewältigen. Aktive Mobilität ist der Grundstein für sicheres Verkehrsverhalten, und das wird im Kindesalter gelegt. Das belegt etwa auch die Studie über die Kinder, die mit zehn Jahren die Fahrradprüfung abgelegt haben. Sie waren im Alter von 18 Jahren den Gleichaltrigen, die diese Prüfung nicht gemacht haben, in allen Belangen des Verkehrs überlegen. Sie waren schneller in der Wahrnehmung und im Antizipieren der Verkehrsentwicklung, waren deshalb weniger in Gefahr. Je besser das richtige und sichere Verhalten im Verkehr trainiert wird, umso mehr Ressourcen habe ich frei. Gutes Training verschafft mir immer einen Puffer.
Was sind Ihrer Einschätzung nach die größten Gefahren?
Die uneinsehbaren Stellen. Und das gilt nicht nur für die Erstklassler, die jetzt den Schulweg erstmals gehen. Das gilt gerade am Schulanfang auch für die zweiten und dritten Klassen. Nach zwei Monaten Ferien ist viel vergessen, deshalb soll der Schulweg wieder neu besprochen werden. Was jetzt noch dazu kommt, ist die Ablenkung durch das Handy. Uns haben Volksschulkinder bei unseren Befragungen erzählt, dass sie auch schon mal gegen Verkehrsschilder gelaufen sind, wenn sie am Weg zur Schule am Handy gespielt haben. Sie haben das Handy deshalb in der Hand, weil sie in der Schule nicht drauf spielen dürfen. Unser Tipp lautet: Handy am Schulweg in die Tasche. Kinder sind nicht multitaskingfähig, das bildet sich erst mit 14 Jahren aus. Auch hier gilt: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Und die Infrastruktur ist eben überall auf Erwachsene ausgelegt. Das muss man immer bedenken.
Was wünschen Sie sich von den erwachsenen Verkehrsteilnehmern?
Dass alle mit gutem Beispiel vorangehen und sich an die Verkehrsregeln halten. Etwa nicht bei Rot über die Kreuzung gehen. Kinder lernen nämlich am Modell. Und wenn sich der Schulweg nicht zu Fuß erledigen lässt, gehen sie andere Wege mit ihrem Kind zu Fuß oder mit dem Rad, etwa zur Oma, in die Musikschule oder zum Sportverein, damit die Kinder sich sicher im Verkehr bewegen lernen.
Bettina Schützhofer ist Verkehrspsychologin und Geschäftsführerin von sicherunterwegs.at - Verkehrspsychologische Untersuchungen GmbH.
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