Die große Leere: "Leuten geht das Essen ab, und die Kommunikation"
Seit 90 Tagen haben Österreichs Gastronomiebetriebe geschlossen. Zuletzt war davon die Rede, dass sie Anfang März wieder aussperren dürfen. Ob sich alle von der Krise erholen, ist jedoch fraglich. Allein in Wien könnten bis zu 30 Prozent der Betriebe die Corona-Krise nicht überleben, prognostiziert Peter Dobcak, Fachgruppenobmann in der Wiener Wirtschaftskammer. Jedes dritte Lokal in Wien könnte bis zum Sommer pleite sein. Viele Gastronomen sind auch wegen ausstehender Mieten unter Druck gekommen. Darunter prominente Namen wie Berndt Querfeld, dem in Wien zwölf Lokale, unter anderem das Café Landtmann, gehören.
An die 114.000 Menschen arbeiteten zuletzt in den insgesamt 56.569 Gastronomiebetrieben in Österreich. Mit Dezember waren 42.056 Gastronomie-Beschäftigte arbeitslos gemeldet. Wer nicht arbeitslos ist, ist zumeist in Kurzarbeit. Wie wird es weitergehen?
Herrn Ottos Zuhause
Die Unsicherheit ist quälend, aber auch die verordnete Untätigkeit. „Mittlerweile vermisse ich sogar schon die schwierigen Gäste“, sagt Otto Eberhart, der vor 17 Jahren im Café Korb in der Wiener Innenstadt zu kellnern begann. Otto Eberhart, seinen Gästen als „Herr Otto“ bekannt, ist Kellner mit Leib und Seele. So sehr, dass er sich sogar am Telefon mit „Herr Otto“ meldet. Er liebt seinen Job, „ich kriege mehr, als ich gebe“, sagt er.
Den Lockdown verkraftet er persönlich ganz gut, aber die Gäste fehlen ihm. „Ich mach mir Sorgen um die Stammgäste. Insbesondere die Älteren, denen bring’ ich seit Jahren in der Früh die weichen Eier mit Schnittlauch, den Kaffee und dazu die Tageszeitung. Ich vermisse dieses Ritual.“
Die gemütlichen Stammgäste und auch die anstrengenden fehlen ihm jetzt. Die, die sich selbst so wichtig nehmen und immer Aufmerksamkeit brauchen. Im Sommer, wenn es voll ist, ist das mühsam. Übrigens, wenn dann eines Tages wieder aufgesperrt wird: Es ist okay, nach Herrn Otto mit den Worten „Herr Ober“ oder, viel besser, „Herr Otto“ zu rufen. Eine Unart hingegen ist das „Wacheln“. Das machen Touristen gerne. Herr Otto winkt dann höchstens zurück. Als Ober darf man sich das Ruder nicht aus der Hand nehmen lassen. Ein guter Kellner hat Autorität. „Wir lassen uns nicht kaufen.“ Das Korb, sagt Herr Otto, ist für die Gäste, aber auch für ihn ein zweites Zuhause. „Ich freu mich auf die Leut’. Ich bin schon kuschelbedürftig.“
Vor Markus Mraz tut sich täglich eine große Leere auf. „Das Lokal ganz ohne Gäste ist erschreckend.“ Markus Mraz, dem einst das Kunststück gelang, in einer der unspektakulärsten Gegenden Wiens eines der außergewöhnlichsten Restaurants der Stadt zu etablieren, ringt um seine Worte. Ständig Neues ausprobieren, das war stets das Motto im Mraz & Sohn in Wien-Brigittenau. Jetzt ist Mraz ratlos. „Wir bekommen extrem viele Rückmeldungen von den Gästen. Sie wollen wissen, wann wir wieder aufsperren. Ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll. Den Leuten geht das Essen ab. Und die Kommunikation. Das Lachen, das Zusammensitzen fehlt ihnen, das hören wir jeden Tag. Und es fehlt auch uns.“
Markus Mraz hat schon als Bub Speisekarten geschrieben und Gulasch im Gasthaus seiner Eltern umgerührt. Die Gastronomie ist sein Leben. Noch dazu wohnt er direkt über seinem Restaurant, und der tägliche Anblick des leeren Lokals deprimiert ihn. Und dann die Unsicherheit, wann tatsächlich wieder aufgesperrt werden darf. Spitzengastronomie verlangt viel Vorbereitung, und manche Produkte, die man jetzt für ein Menü plant, gibt es eventuell nicht mehr, wenn es dann tatsächlich so weit ist.
Die neue Häuslichkeit
Im ersten Lockdown hatte die neue Häuslichkeit noch einen gewissen Charme. Basteln, backen, selber kochen. Mittlerweile geht vielen die eigene Küche auf die Nerven. Take-away ist eine beliebte Alternative, wohl auch, weil es zu den wenigen Dingen gehört, die den Alltag jetzt noch irgendwie spannend machen. Wie das wohl am Valentinstag wird, einem Tag, an dem man besonders gerne essen geht? Werden findige Unternehmer Schnitzel-to-go in Herzerlform anbieten? Vorstellbar ist alles. In der Wiener Innenstadt warten dieser Tage junge Menschen bis zu zwei Stunden vor einem neu eröffneten Schnellimbiss, um einen Hamburger kaufen zu dürfen, andere wiederum stehen beim Demel am Kohlmarkt für Kaiserschmarren Schlange.
56.569 Gastrobetriebe
gibt es in Österreich – diese Zahl umfasst alles, vom Würstelstand bis zum 3-Sterne-Restaurant.
Die meisten davon, nämlich knapp 22.000, liegen in Wien und Niederösterreich. Die wenigsten Lokale haben Vorarlberg und das Burgenland
9,1Milliarden Umsatz
verzeichnet die Branche jährlich. Mit 145.000 Jobs gehört sie zu den größten Beschäftigungsmöglichkeiten
42.056Arbeitslose
gibt es derzeit in der heimischen Gastronomie (Stand Dezember 2020). Seit März wurden rund 135.000 Beschäftigte
aus Gastronomie und Beherbergung mit der Kurzarbeitshilfe gefördert, aktuell sind laut AMS 113.000 in Planung
für die Kurzarbeit
Prognose
20 bis 30 Prozent der Wiener Gastronomiebetriebe werden die Corona-Krise nicht überleben, prognostiziert Peter Dobcak, Obmann der Sparte Gastronomie der Wiener Wirtschaftskammer
90Tage
Seit 90 Tagen ist die Gastronomie in Österreich mittlerweile am Stück geschlossen. Der letzte offene Tag war der
2. November 2020.
Im Frühjahr war die
Gastronomie 61 Tage
lang geschlossen –
macht insgesamt 151
1. März Öffnungstermin
Der 1. März gilt derzeit als geplanter Öffnungstermin für alle Gastronomiebetriebe in Österreich. Mitte Februar wird es das nächste Treffen zwischen Wirtschaftskammer und Bundeskanzler Sebastian Kurz geben, ob dieser Termin auch halten wird. Die Virusmutationen sorgen derzeit für Spekulationen um eine Verlängerung des Lockdowns
Protest-Aktion
Im Jänner machten Gastrobetriebe mit der Aktion „5 vor 12“ auf ihre Situation aufmerksam. Sie öffneten ihre Türen und stellten Grabkerzen in die Fenster. Sie wollten damit auf die heikle Lage der krisengebeutelten Branche hinweisen. Laut WKÖ wandern viele Mitarbeiter bereits in andere Branchen ab. Sie befürchtet, dass es zur Öffnung zu wenig Personal geben wird
Die große Schikane
Auch das Restaurant Mraz & Sohn hat es im ersten Lockdown mit Take-away versucht. Doch es hat sich nicht ausgezahlt, die Bürokratie war sehr mühsam, erzählt Markus Mraz. „Das Lebensmittelamt hat uns dermaßen wegen den Etikettierungen schikaniert, dass wir es letztlich aufgegeben haben.“
Trotzdem, im ersten Lockdown war rückblickend alles nicht so schlimm. Damals hat wenigstens die Sonne in das Lokal geschienen. Jetzt ist alles grau. Aber irgendwie wird es weitergehen, und Markus Mraz wird sich früher oder später wieder ans Speisekarten-Schreiben machen.
Andere Lokale versuchen gerade, sich selbst Mut zuzusprechen. „Kopf hoch! Wir laufen nicht weg!“, postete dieser Tage das Café Westend gegenüber des Wiener Westbahnhofs auf Facebook. Darunter waren innige Liebesbekundungen von derzeit Leider-nicht-Gästen zu lesen.
Das Westend ist nicht das einzige Lokal, das vermisst wird. Ob Stammwirt, Beisl, Sternerestaurant oder klassisches Kaffeehaus: Sie alle bieten Refugien, sagt der Wiener Kultursoziologe Manfred Russo (siehe Interview rechts). Und sie sind zugleich eine „Kombination aus Bühne und Zuhause, die dem Menschen eine Entfaltungsmöglichkeit und Wahrnehmung seiner Persönlichkeit bietet.“
Wie kostbar diese Orte sind, fällt uns vielleicht erst jetzt auf, weil wir es wohl nicht für möglich gehalten haben, dass wir einmal so lange ohne sie auskommen müssen.
Der Gastro-Cold-Turkey
„Es ist wie in den meisten Beziehungen: Was man am Gegenüber wirklich liebt, erkennt man oft erst nach einer längeren Trennung“, formuliert der Wiener Autor Marc Carnal.
„Kaiserschmarrn to go und Drei-Gänge-Menü aus dem Fahrradboten-Rucksack“ können seine gastronomischen Grundbedürfnisse nicht befriedigen. Carnal vermisst sein Beisl. „Monate nach dem gastronomischen Cold Turkey sehne ich mich nach den Schattenreichen der professionellen Bewirtung. Ich vermisse die räudigen, Kult-unverdächtigen Beiseln ohne jede Happy Hour, die bei Tageslicht immer viel düsterer wirken als abends. Diese Kleinode gehören zur gastronomischen Hochrisikogruppe, viele werden die lange Corona-Sperrstund’ nicht überleben. Traurig erhebe ich im Homeoffice meinen Spritzer stellvertretend auf ,Renate’s Beisl‘“.
Und er hätte, setzt Carnal hinzu, „gerade Durst genug, um die Gastronomie im Alleingang zu retten“.
In dieser kontaktarmen Zeit erinnern wir uns an das Beisl, den Stammwirten oder das Kaffeehaus als Umschlagplätze der Gemeinsamkeit. Auch wenn der Satz „Gehen wir einmal auf einen Kaffee“ vielleicht immer schon unverbindlicher gemeint war, als wir zugeben wollten.
Doch es ist nicht nur das Gemeinsame, das uns abgeht, sondern auch das wunderbare, sprichwörtliche „allein unter Leuten“ sein, das jetzt fehlt. Cafés und Gasthäuser sind Orte, an denen wir den Augenblick, der nur uns gehört, besonders intensiv spüren können. Sie bieten eine außergewöhnliche Form der Zeit für einen selbst.
Und sind als Orte schlicht und einfach alternativlos.
Auf dem Lande: Traditionen pflegt man, doch der Stammtisch macht Pause
Schnapsen Tarockieren, Preferanzen: Wenn die Zeiten etwas weniger außergewöhnlich sind, dann werden im Gasthof Graf an der Ortseinfahrt von Hollabrunn die Traditionen gepflegt. Vereinstreffen, Kartenspiele, Hausmannskost. Und hauptsächlich Männer am Wirtshaustisch. In Hollabrunn, heißt es, gehen die Frauen nicht allein ins Wirtshaus.
Hier, im westlichen Weinviertel, ist vieles noch, wie es einmal war. Anderswo wird wortreich das Wirtshaussterben beklagt, in Hollabrunn gibt es immerhin noch vier alte Gasthäuser mit österreichischer Küche und Stammtischkultur.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts steht an der Ortseinfahrt ein Gasthaus. Und seit mehr als 50 Jahren mit dem Gasthof Graf ein Familienbetrieb. Er ist Anlaufstelle für Schweinsbraten, Gulasch und Dorfleben. Eine Verantwortung, der sich Erwin Graf seit dem Jahr 1999 stellt, als er den Gasthof von seinen Eltern übernommen hat.
Auf kleiner Flamme
Wenn das Wirtshaus stirbt, stirbt das Dorf, sagt man. Beim Graf kann davon keine Rede sein. Auch jetzt wird gearbeitet, momentan eben auf kleinerer Flamme. Man kocht für die Leute aus der Umgebung Menüs zum Mitnehmen. Vor allem zu Mittag läuft’s gut. Auch die Hollabrunner sind des selber Kochens müde geworden und holen sich jetzt Fleischlaberln mit Püree, Beuschel oder Paprikahenderl beim Wirt. Und Herausgebackenes. Aufwendige Hausmannskost, die daheim nicht so gut gelingt wie im Gasthaus. Nur der Stammtisch hat jetzt Pause. Er hat sich möglicherweise verlagert, in die Weinkeller und Hobbyräume. Die Leute lassen sich eben nicht einsperren, heißt es. Das Gasthaus als soziale Einrichtung ist auch am Land wichtig, aber es gibt Alternativen. Nur nicht für den Wirt, dem fehlen die Stammgäste. „Ich freu mich aufs Aufsperren, das ist kein Zustand“, sagt Erwin Graf. Sicherlich, mit Mittagstisch zum Mitnehmen und den Hilfen vom Staat schreibt man jetzt wenigstens keine roten Zahlen. Man hält sich über Wasser. Aber schön langsam möchte man dann doch wieder Leute sehen. „Ich vermisse meine Gäste.“
Kommentare