Neue Spiele: Schlechte Zeiten für Einzelkämpfer
Es war ein Spieleerlebnis, das bis heute in Erinnerung bleibt. Auf der einen Seite des Spielbretts: Ein Auserwählter – der Glückliche! –, bewaffnet mit einem Kartonschild, wackelig um die Stirn gebunden, um seinen Blick zu verbergen. Auf der anderen Seite: Seine Verfolger – ja, das war vergleichsweise langweilig! –, die gemeinsam Jagd auf ihn machen. Dazwischen: Der Stadtplan von London.
Mit Scotland Yard brachte Ravensburger im Jahr 1983 eine Novität auf den Markt. Erstmals kämpften in einem Spiel, das sich an die breite Masse richtete, die Spieler gemeinsam um den Sieg. Oder zumindest fast. Als Kontrahent, in diesem Fall der mysteriöse Mister X, trat immer noch ein realer Mitspieler auf. Dennoch darf Scotland Yard als Meilenstein in der Entwicklung sogenannter kooperativer Spiele gelten.
Heute, 38 Jahre später, ist daraus ein eigenes Genre erwachsen. Mehr noch: Kooperative Spiele boomen. Das zeigte sich diese Woche nicht zuletzt in Berlin, wo eine Fachjury den vielleicht begehrtesten Spielepreis überhaupt vergab – den Titel „Spiel des Jahres“ und „Kennerspiel des Jahres“.
Und da zeigte sich schon an der Nominierungsliste, wohin der Trend geht. Nicht nur beim siegreichen Kennerspiel (Paleo) agiert man im Team, in der Hauptkategorie „Spiel des Jahres“ handelt es sich sogar bei allen drei Finalisten um kooperative Spiele. Durchgesetzt hat sich schließlich MicroMacro: Crime City, das vor einigen Wochen bereits in dieser Kolumne hoch gelobt wurde.
Und so sitzen die Spieler auch im Jahr 2021 gemeinsam vor einem Stadtplan. Nicht vor jenem der britischen Hauptstadt, freilich. Sondern vor einem fiktiven, auf dem sich zahllose Tiere in Menschengestalt tummeln. MicoMacro: Crime City ist ein optisches Detektivspiel. Auf einem Wimmelbild müssen mithilfe von Fallkarten, Lupe und einer Portion Geduld knifflige Kriminalfälle gelöst werden – und zwar gemeinsam.
Großes Potenzial
Dass so viele kooperative Spiele für die Auszeichnung nominiert waren, sei keine Absicht gewesen, erzählt Jurysprecher Bernhard Löhlein im KURIER-Gespräch. „Am Ende unserer Beratungen waren wir überrascht.“ Es zeige zugleich aber, „welch großes Potenzial im kooperativen Spiel steckt.“
Tatsächlich legen immer mehr Spieleautoren ihre Energien in kooperative Konzepte. Das Genre hat sich weiterentwickelt. Bösewichte wie Mister X braucht es schon lange nicht mehr, mittlerweile dürfen wirklich alle gemeinsam „gegen das Spiel“ antreten.
An die Stelle des Wettkampfs untereinander ist das Lösen von Problemen getreten.
Das ist – im besten Wortsinne – zeitgeistig. Die Gesellschaft hat sich verändert. Und mit ihr die Ansprüche ans Spielen. „Spiele sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. In ihnen tauchen Mechanismen auf, die wir im Alltag erleben“, sagt Löhlein.
Und da ist – sei es in der Schule, auf der Uni oder im Job – die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten, längst eine Kernkompetenz. „Teamfähigkeit findet sich heute als Anforderung in jedem Stelleninserat“, formulierte es unlängst der Spieleforscher Jens Junge im KURIER-Interview. Echte Einzelkämpfer sind out.
Bis sich der Team-Gedanke in Erwachsenenspielen durchgesetzt hat, sollte es übrigens einige Zeit dauern. Den Ursprung hat der Trend in Kinderspielen. „Wir alle kennen das: Manche Kinder verlieren nicht gerne. Daher hat man sich pädagogisch wertvolle Spiele überlegt, in denen alle zusammenhelfen und ihr Können betragen“, sagt Löhlein.
"New Games"-Bewegung
Inspiriert waren die ersten Spiele von der „New Games“-Bewegung, die in den USA der 60er-Jahre entstand. Es ging plötzlich um Gemeinschaftsgefühl, Vertrauen, die Inklusion Schwächerer – Sieger und Verlierer waren abgeschafft.
Als eines der ersten kooperativen Brettspiele gilt Wundergarten aus 1977, erschienen im Herder-Verlag. Das Ziel: Blumenbeete zu bepflanzen, bevor das Gewitter aufzieht. Die Spielmechanik war damals noch nicht ausgereift und allzu simpel. Doch die Branche lernte dazu – und bald entstanden moderne Kinderzimmer-Klassiker wie Wer war’s? und Schnappt Hubi!, für die der Ravensburger-Verlag zwei Mal (2008 und 2012) mit dem „Kinderspiel des Jahres“ ausgezeichnet wurde.
Der Legacy-Trend
Zwei jüngere Trends befeuerten das kooperative Spiel dann auch unter Erwachsenen: die Exit-Spiele – und die sogenannten Legacy-Spiele.
Worum es bei Letzteren geht, verrät der Name: Das Spiel entwickelt sich von Runde zu Runde weiter, erhält zusätzliche Regeln und neue Elemente – wobei der Spielstand der Vorrunde vererbt wird. Einzelne Partien stehen also nicht länger für sich, sondern fügen sich in eine Geschichte.
„Die Figuren, die man übernimmt, haben Charakter und entwickeln sich weiter“, so Löhlein. „Da macht es besonders viel Freude, gemeinsam Rätsel zu lösen – fast wie in einer Bande.“
Der offensichtliche Nachteil der Legacy-Spiele – dass man sie tunlichst mit der immer gleichen Runde an Mitspielern weiterspielen sollte – war gerade in den vergangenen Monaten keiner. „Durch Corona war diese Art des Spielens begünstigt“, sagt Löhlein.
Spielen wir in Zukunft also nur noch im Team? „Sicher nicht“, sagt Löhlein. „Jede Bewegung löst eine Gegenbewegung aus. Das klassische Wettrennen um den Sieg wird irgendwann wieder von größerer Bedeutung sein.“
Bis es so weit ist, kann man durchaus noch eine Partie Scotland Yard wagen, das 1983 übrigens selbst zum „Spiel das Jahres“ gekürt wurde. Bis heute zählt es mehrere Millionen verkaufter Exemplare – und wurde mehrfach überarbeitet. Zuletzt erst im Jahr 2013.
Spaß macht es bis heute. Wenn man Mister X sein darf.
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