Detektivspiele: Der Mordfall kommt mit der Post
Am 14. März wird der 56-jährige Frank Neumann tot in seiner Dusche gefunden – mit 14 Schusswunden in Kopf und Oberkörper. Das Wasser läuft noch, als die Beamten den leblosen Körper auf den Boden hieven. Vom Täter fehlt jede Spur – und die Zeit drängt: Denn Frank Neumann ist nicht irgendjemand. Er ist ein millionenschwerer Unternehmer.
Was nach einem realen Mordfall klingt, sorgt derzeit unter heimischen Spiele-Fans für Begeisterung: Detektivrätsel für daheim haben sich, befeuert von Corona und Ausgangsbeschränkungen, zu einem der heißesten Trends der Branche entwickelt.
Der Fall kommt mit der Post
Wie das Ganze funktioniert? Die Spieler erhalten per Post eine täuschend echte Fallakte zugeschickt – und dann geht es, ohne aufbauen, auch schon los. In dem Kuvert finden sich Polizeiberichte, Obduktionsbefunde, Chat-Protokolle – keine Sorge, nicht immer reicht die Fiktion an die Realität heran! –, Fotos von Verdächtigen, Briefe und Beweisstücke und mehr, das es zu erkunden gilt.
Jetzt ist Polizeiarbeit gefragt: Akten werden studiert, Alibis überprüft, Verdächtige ausgeschlossen, bis sich ein Puzzleteil in das andere fügt. Erlaubt ist dabei alles, was möglich ist, den Recherchemethoden sind keine Grenzen gesetzt. Es darf telefoniert und im Internet recherchiert werden.
Hier offenbaren sich die Unterschiede zu den sogenannten Escape Games, aus denen sich die Detektivrätsel vor einiger Zeit als Genre entwickelt haben. Während klassische Escape Games auf knifflige Rätsel und Knobeleien setzen, die am Ende doch immer nur fiktional und ein bisschen zusammenhanglos wirken, setzen Detektivspiele auf ein möglichst reales Spielerlebnis.
Vorreiter Hidden Games
Das Ziel: Die Spieler sollen sich wie echte Ermittler fühlen – und so handeln. „Es ist ein erlebbarer Krimi, fast wie ein Roman, in den man immer tiefer eintaucht“, sagt Rieke Muuß im KURIER-Gespräch. Sie ist Mitgeschäftsführerin von Hidden Industries, das mit Hidden Games zu den ersten Unternehmen zählte, das Ermittlerspiele auf den deutschsprachigen Markt brachten.
Muuß betreibt Escape Rooms in Norddeutschland. (Einige davon sind durchaus bekannt: Wer je in Hamburg auf einem echten Schiff gerätselt hat, hat die Spielewelten von Muuß bereits kennengelernt.)
2019 bekam Muuß Lust, ein neues Projekt hochzuziehen, ging ein halbes Jahr auf Reisen und entwickelte im Alleingang das erste Hidden Game. „Das war damals etwas Neues“, erzählt sie. „Nur in den USA gab es Projekte in diese Richtung.“
Das erste Hidden Game sollte dann nicht in fernen Ländern, sondern in einem Dorf spielen: Beim Schützenfest in Klein-Borstelheim bricht Maximilian Schuster tot zusammen, nachdem er kurz zuvor zum Schützenkönig gewählt wurde. Mit dem Dorfidyll ist es, man kann es sich vorstellen, relativ schnell vorbei.
Das kleine Dorf, das sei auch Teil des Erfolgskonzepts, sagt Muuß. Alle Fälle sind in einer fiktiven Gegend angesiedelt, mit der sich die Spieler identifizieren können. Irgendwo in Deutschland oder in Österreich, Dörfer wie diese gibt es hier zuhauf.
„Es ist eine eigene Welt, die man trotzdem zu kennen scheint, weil sie der unseren gleicht, und in die die Spieler zurückkehren.“ Manch beliebter Protagonist taucht auch in einem späteren Fall wieder auf.
Vier Fälle sind derzeit verfügbar (der vorerst letzte, „Ein Drahtseilakt“, spielt im Zirkus), noch dieses Jahr kommen zwei weitere dazu, zudem einer für Kinder.
Prädikat: True Crime
Der Markt ist unübersichtlich geworden, das Konzept wird kopiert und modifiziert, im Wochentakt gibt es Neues. Zu den Neuerscheinungen zählt auch The Unknown. Der erste Fall „Der Millionenplan“ ist seit Mai verfügbar. Den Mord an Frank Neumann – der Millionär, Sie erinnern sich! – aufzuklären, dauert bis zu zweieinhalb Stunden.
The Unknown wirbt, wie andere, mit dem Prädikat „True Crime“. Die Rätsel basieren auf echten Fällen, heißt es. Das zieht beim Publikum, True-Crime-Serien machen sich im TV seit jeher gut.
Spaß macht das Ermitteln in kleiner Runde, bis zu vier, maximal sechs Spieler sind ideal. Es muss viel kommuniziert werden, Konzentration ist wichtig. Mehr Augen sehen mehr, wer sich nicht eingebunden fühlt, ist aber rasch mit dem Kopf woanders. Freilich, auch alleine kann man spielen. „Das ist aber ein bisschen nerdig“, sagt sogar Muuß.
Die Idee, spielerisch Krimifälle zu lösen, ist übrigens nicht neu, sondern ziemlich alt – auch wenn die neue Generation an Ermittlerspielen mit ihren Urahnen nichts mehr zu tun hat. Der Klassiker? Cluedo.
Whodunit?
Auf einem Spielplan jagen Detektive seit den 1940er-Jahren durch ein Herrenhaus und ermitteln, wer den Mord mit welcher Waffe in welchem Raum begangen hat. (War es Oberst von Gatow mit dem Kerzenleuchter in der Küche? Reverend Grün mit dem Messer in der Bibliothek?) Wer sich an Hercule-Poirot-Filme im Whodunit-Konzept erinnert fühlt, liegt nicht so falsch.
Das Spielprinzip freilich ist simpel: Durch Erfragen werden immer mehr der 324 Lösungskombinationen ausgeschlossen. Es geht nicht ums Ermitteln, sondern um Kombinieren und leserliches Mitschreiben. (Wer die Idee des Herrenhausmords liebt, dem sei übrigens ein Geheimtipp ans Herz gelegt: In 1313 Dead End Drive geht es darum, nach dem Tod von Tante Agatha als einziger Erbe übrig zu bleiben. Das geht besser, wenn man etwas nachhilft.)
Das Detektiv-Konzept jedenfalls kehrte immer wieder. Einer der spielerischen Höhepunkte vor wenigen Jahren: Sogenannte Dinner&Crime-Spiele, bei denen jeder in die Rolle eines vordefinierten Charakters und möglichen Täters schlüpft, den es im Laufe des Abends zu entlarven gilt.
Was allen Vorläufern gemein ist: Selbst wenn man daheim für gelungene Spielatmosphäre sorgt, bleibt doch alles irgendwie erfunden.
Spätestens, wenn man den Obduktionsbericht von Frank Neumann liest, ist es mit diesem Gefühl vorbei. Der Täter dürfte ihn übrigens überrascht haben. Neumann wurde in den Rücken geschossen ...
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