Die emotionale Rückkehr an den Ort des Terrors
So ausgelassen wie an Tag eins nach dem mehr als sechsmonatigen Lockdown war die Stimmung rund um den Schwedenplatz zuletzt am 2. November. Jener Tag, bevor das Land zusperrte. Und jene verheerende Nacht, in der Schüsse in der Wiener Innenstadt fielen.
Am gestrigen Mittwoch ist vom Schrecken der Terrornacht nicht mehr viel übrig. Zerschossene Scheiben wurden ersetzt und Einschusslöcher ausgebessert. Das erste Mal seit dem Anschlag herrscht hier so etwas wie Normalität. Die Menschen sind zurück, trinken, lachen und feiern.
Doch Normalität ist immer relativ. Für Andreas Wiesinger hat das erste Bier in seiner Stammbar, dem „Philosoph“ in der Judengasse, eine ganz besondere Bedeutung. Der 43-Jährige wurde hier am 2. November von einer Kugel im Knie getroffen, eine zweite flog wenige Millimeter an seinem Kopf vorbei. Für ihn war schon damals klar, dass er so bald wie möglich zurückkommen würde, um mit dem Erlebten abzuschließen.
Begleitet wird er Mittwochabend von drei Freunden. Mehr dürfen an den kleinen Tischen im Lokal derzeit nicht Platz nehmen. Die Stimmung unter den Männern ist ausgelassen, allerdings auch immer wieder nachdenklich.
Sie wissen: Wäre eine der Kugeln an jenem Abend nur wenig versetzt geflogen, säßen sie heute ohne ihren Freund hier. Einer von ihnen hätte damals sogar dabei sein sollen. Er war müde, sagte ab. Die „Fügung und das Glück“ beschäftigen ihn bis heute. Wiesinger hat selbst oft genug darüber nachgedacht, was sein hätte können. Heute will er daran keinen Gedanken verschwenden: „Wir sind zurück und haben Spaß. Der Attentäter hat nichts erreicht.“
Das Zurückkommen in seine Lieblingsbar war aber alles andere als einfach. „Natürlich war die Vorfreude riesig. Das Land befand sich direkt nach dem Attentat im Lockdown. Wenn man kurz davor so etwas erlebt hat, fühlt man sich besonders isoliert“, sagt er.
Aber auch die Massen am Tag der Wiederöffnung seien eine Herausforderung gewesen, der Weg durch die vollen Gassen des Bermudadreiecks kostete Überwindung. Einige Male habe er innehalten müssen, obwohl er im Vorfeld bereits mehrmals an den Ort des Geschehens zurückgekommen war, um Blumen niederzulegen. Damals war die Umgebung Lockdown-bedingt allerdings menschenleer. „Größere Ansammlungen und unerwartet laute Geräusche machen mir immer noch Stress“, erzählt Wiesinger.
Ärger über Schadenersatz
Abgesehen davon gehe es ihm aber wieder sehr gut, selbst sein angeschossenes Knie sei wieder voll einsatzfähig. Wiesinger schätzt sich glücklich, dass er – im Gegensatz zu manch anderem – diesen Abend in guter Gesellschaft genießen kann. Einige Überlebende müssten aufgrund ihrer schweren Verletzungen gerade das Gehen neu erlernen oder werden überhaupt dauerhafte Schäden davontragen. Vor diesem Hintergrund hält er es für unverschämt, dass die Republik die Betroffenen mit maximal 2.000 Euro aus dem Verbrechensopfergesetz abspeisen möchte.
Er selbst hat diese Summe bisher gar nicht beantragt – auch weil er dafür den genauen Tathergang schriftlich schildern müsste, was ihm bis heute schwerfällt: „Ich habe es dreimal versucht, jedes Mal kommen Emotionen und Erinnerungen hoch, mit denen ich nur abschließen will.“ Der Umgang mit den anderen Terroropfern und die Tatsache, dass in den letzten Monaten immer mehr Ermittlungspannen bekannt wurden, ärgert ihn aber derart, dass er sich jetzt wahrscheinlich einer Klage anschließen wird.
„Armes Würstchen“
Weiterhin klar ist für Wiesinger, dass Terror nichts mit Religion zu tun hat: „Der Attentäter war ein armes Würstchen. Ich habe wegen ihm keine Angst, wenn ich ausgehe.“ Diesen Zugang teilen wohl viele der Stammgäste im „Philosoph“. Darunter auch Matteo Herdegen, der an besagtem Abend ebenfalls vor Ort war und nur knapp mit dem Leben davonkam.
Er sitzt heute draußen und trägt stolz dieselbe Lederjacke wie in der Terrornacht. Die Einschusslöcher am Rücken sind klar sichtbar. Wiesinger steht daneben und holt sein Handy aus der Tasche. Das Smartphone wurde ebenfalls von einer Kugel getroffen, ist überraschenderweise aber noch voll funktionstüchtig.
Mehr erinnert in dieser Situation aber nicht an den Schrecken vom 2. November. Die Männer prosten einander zu. Dann wird die nächste Runde bestellt. Ganz normal eben.
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