Überlebende nach Terror: "Er hat geschossen, aber nichts erreicht"
Vier Todesopfer und 23 teils Schwerverletzte, so liest sich die traurige Bilanz der Wiener Terrornacht. Die meisten Verwundeten konnten das Spital mittlerweile verlassen, für sie beginnt jetzt der noch schwierigere Teil – die psychologische Aufarbeitung. Einige Opfer hat es zurück an den Ort des Geschehens gezogen. Der KURIER hat zwei Betroffene begleitet.
Einer von ihnen ist Andreas Wiesinger. Er ist mit einer Fleischwunde am Knie davongekommen – mit Glück, wie er erzählt: „Eine Kugel ist nur Millimeter an meinem Kopf vorbeigeflogen. Das fühlt sich an, als würde der stärkste Mann der Welt mit einem Vorschlaghammer auf deinen Kopf schlagen, aber dann nur die Haarspitzen erwischen.“ Eigentlich wollte der 42-Jährige sich vor dem Lockdown spontan mit einer Freundin in seinem Lieblingspub treffen. „Wir haben uns wegen Corona in den Schanigarten gesetzt, weil dort das Risiko geringer ist. Welch Ironie …“, denkt er zurück.
"Es gab keinen Egoismus"
Viele taten es den beiden gleich, denn für Anfang November war es außergewöhnlich mild. Laut Wiesinger seien rund 30 Leute im Freien gesessen, als die ersten Schüsse fielen. Zuerst dachten sie an Böller. Als Schreie folgten, seien die ersten Leute aufgestanden. „Im nächsten Moment kam er ums Eck und feuerte ziellos in die Menge.“ Wiesinger sah den Attentäter nicht, nur sein Gewehr und den Funkenflug: „Ich dachte ,komisch, Schall ist schneller als Kugeln’. Schräg, was einem in solchen Momenten durch den Kopf geht.“
Als die ersten Projektile einschlugen, sprinteten alle ins Lokal. „Es war niemand versteinert oder in Panik. Da ist man voll mit Adrenalin und funktioniert einfach“, erinnert sich Wiesinger. Im Innenbereich verschanzten sie sich zuerst im Keller und dann im Hof, wo alle zusammenhalfen, um die Verletzten zu versorgen. „Es gab keinen Egoismus, jeder packte an“, erzählt der 42-Jährige.
Rettender Sprung
Der Attentäter setzte seine Route in der Zwischenzeit von der Judengasse über die Seitenstettengasse Richtung Schwedenplatz fort. Dort war Saeed Mousavi gerade am Weg zur U-Bahn. Auch er hörte Schüsse und rannte zur Marienbrücke. Auf der anderen Seite des Franz-Josefs-Kais, vielleicht 20 Meter entfernt, erblickte er den Täter, der gerade zum Schuss ansetzte. Ein vorbeifahrender Bus fing die Kugeln ab.
Der 26-Jährige zögerte keine Sekunde und sprang zum Ufer des Donaukanals – und das, obwohl es an dieser Stelle gut viereinhalb Meter runter geht. „Ich konnte nicht vor oder zurück, sonst hätte er weiter auf mich geschossen. Seitlich konnte ich nicht ausweichen, weil zu dieser Zeit noch Autos fuhren.“
Nach dem Aufprall schaffte es der gebürtige Afghane irgendwie aufzustehen und sich unter der Brücke zu verstecken. „Dort bin ich einige Minuten gelegen und hatte schreckliche Schmerzen. Ich dachte, er hat mich getroffen und ich muss sterben.“ Er habe dann nur an seine Familie denken können und ein Foto seines Sohnes angesehen.
Andreas Wiesingers Tasche und Federpennal wurden durchlöchert.
Andreas Wiesingers Tasche und Federpennal wurden durchlöchert.
Andreas Wiesingers Tasche und Federpennal wurden durchlöchert.
Andreas Wiesingers Tasche und Federpennal wurden durchlöchert.
Kugel im Federpennal
Wie sich glücklicherweise herausstellte, wurde er nicht getroffen. Bei der Landung zog er sich aber schwere Prellungen zu. Vorerst muss er mit einer Krücke gehen.
Ein „Andenken“ an die Stunden des Terrors hat auch Wiesinger, der Schusslöcher in seiner Tasche fand und eine Kugel, die in seinem Federpennal steckte. „Für das Pennal habe ich bereits Anfragen aus dem Haus der Geschichte und vom Hersteller, Robert Horn, um es auszustellen“. Er werde es wohl auch hergeben, um endgültig abzuschließen.
Wie Mousavi will er ohne Angst weiterleben und bald wieder in seinem Lieblingspub sitzen. Die beiden sind sich einig, dass eine derartige Tat nichts mit Religion zu tun hat. Mousavi, der sich selbst als „nicht sonderlich religiösen“ Muslim bezeichnet, ist überzeugt, dass Gewalt im Islam nichts verloren hat. Er hofft, dass nun nicht alle in einen Topf geworfen werden. Wiesinger glaubt das nicht: „Der Attentäter hat geschossen, aber nichts erreicht.“
Was die Behörden wissen
Der beim Terroranschlag verletzte Andreas Wiesinger ist aufgrund der bekanntgewordenen Ermittlungspannen geschockt, möchte aber auf niemanden mit dem Finger zeigen. Wichtig sei die Aufklärung und das so etwas nie wieder passiere.
Den Ermittlern liegt mittlerweile ein zehnsekündiges Video vor, in dem eine Person auf dem Beifahrersitz eines Wagens sitzt – zwischen den Beinen ist eine Waffe erkennbar. Die Ermittler vermuten, dass es sich um die Tatwaffe handelt. Und dass Kujtim F. sich in diesem Video selbst filmt.
Das Video wurde nachts aufgenommen. Es ist weder bekannt, wann es gemacht wurde, noch wo. Und es ist unklar, wer am Steuer des Autos sitzt. Beim Fahrzeug könnte es sich um einen BMW handeln; noch immer ist ungeklärt, wie Attentäter Kujtim F. zum Tatort kam.
Tratschen mit Budgen: Terror-Betroffener Andreas Wiesinger
20:00 Uhr
Erste Notrufe gehen bei der Polizei ein
20:09 Uhr
Nachdem der Attentäter insgesamt vier Menschen getötet hat, wird er von der Polizei erschossen
20:35 Uhr
Es ist unklar, ob es mehrere Täter gibt. Die Innenstadt ist bereits komplett abgeriegelt und Tausende Menschen sitzen fest
20:59 Uhr
Das Innenministerium geht zunächst von einem „Amoklauf oder Anschlag“ aus. Im Internet kursieren zahlreiche Videos vom Schusswechsel und der Attacke
22:06 Uhr
Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) spricht erstmals von einem Terroranschlag. Die Wiener Berufsrettung bestätigt Verletzte und Tote
01:15 Uhr
Bei einer Pressekonferenz informiert der Innenminister, dass der Einsatz noch laufe, und fordert die Wiener auf, Zuhause zu bleiben
07:41 Uhr
Die Polizei bestätigt vier Todesopfer – zwei Frauen und zwei Männer
18 Verhaftungen
Keine Zweifel gibt es allerdings, dass Kujtim F. von 16. bis 20. Juli Besuch von bekannten Dschihadisten aus Deutschland und Österreich bekommen hatte – auf Ersuchen der ausländischen Geheimdienste fanden deshalb auch Observationen statt. In diesen Tagen könnte der Attentäter die Schusswaffen bekommen haben – einen Tag nach der Abreise seiner Besucher machte er sich jedenfalls mit einem Bekannten auf den Weg in die Slowakei, um (erfolglos) Munition zu besorgen.
Gegen Kujtim F. soll trotz Gefängnisstrafe kein Waffenverbot verhängt worden sein. Nicht einmal nachdem er Munition in der Slowakei kaufen wollte. Ein Beamter sagte vor der Justiz aus, es sei auch deshalb nichts geschehen, weil eine Razzia gegen die Muslimbrüderschaft (Operation Ramses/Luxor) vorbereitet werden sollte und diese Vorrang hatte.
18 Männer im Alter von 16 bis 24 Jahren wurden in den Tagen nach dem Anschlag festgenommen. 10 von ihnen sollen bei dem Treffen im Juli dabei gewesen sein, sie sind einschlägig vorbestraft. Derzeit befinden sich die Personen in Untersuchungshaft.
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