Primar: Zahl der Online-Süchtigen nimmt dramatisch zu
Kurosch Yazdi-Zorn ist Vorstand der Klinik für Psychiatrie mit Schwerpunkt Suchtmedizin am Linzer Kepler Klinikum. Der 48-Jährige ist im Iran geboren und hat in Wien Medizin studiert. Er ist auch Vorstandsvorsitzender von pro mente OÖ. Pro mente betreut mit 1.500 angestellten und 200 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen an 180 Standorten Menschen mit psychischen und sozialen Problemen.
KURIER: Wirkt Corona noch nach?
Kurosch Yazdi-Zorn: Wir haben unsere eigenen Patientinnen und Patienten sehr intensiv befragt. Es ist herausgekommen, dass jene Alkoholkranke rückfällig geworden sind, die alleine gelebt haben. Jene, die in einer Gemeinschaft oder mit einer Partnerin gelebt haben, sind nicht so häufig rückfällig geworden. Das zeigt, dass Einsamkeit in den Lockdownphasen ein großer Stressfaktor war.
Im Drogenbereich haben wir das nicht so erfassen können. Bei den drogensüchtigen Menschen hat es keinen Unterschied gemacht, ob sie alleine leben oder nicht, ob sie mehr konsumieren oder nicht oder ob sie rückfällig werden. Das war für uns unerwartet. Es gab trotz geschlossener Grenzen offensichtlich auch keine Knappheit an Drogen.
Es gibt noch andere Süchte wie Internet-Sucht, Computerspielsucht oder Kaufsucht. Wie war es in diesen Bereichen?
Wir können erst in ein paar Jahren feststellen, ob Corona eine nachhaltige Erhöhung dieser Verhaltenssüchte bewirkt hat. Es könnte sein.
Der Coronakrise folgte der Krieg Russlands gegen die Ukraine mit seinen Auswirkungen auch in Österreich. Wie können die Menschen die für derartige Krisen notwendige Resilienz, Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit entwickeln?
Ein Faktor ist das soziale Wohlbefinden. Wir Menschen sind Gemeinschaftswesen. Mit Gemeinschaft sind Menschen gemeint, die einen wohlwollend aufnehmen. Es gibt ja auch Familien, in denen Menschen in schrecklichen Umständen aufwachsen.
Soziale Kontakte, die einem guttun, sind der größte Resilienzfaktor, den wir überhaupt haben. Neben der Genetik. So wie bei anderen Krankheiten wie Diabetes etc. gibt es auch genetische Faktoren bei psychischen Erkrankungen. Wenn jemand diese genetische Prädisposition nicht hat, hält er mehr Stress aus.
Ein Thema ist die generelle Lebenszufriedenheit. Hier geht es nicht um das kurzfristige Glücksgefühl, das man vielleicht nach einem Marathonlauf hat, sondern es geht um das langfristige Gefühl, dass ich mit allem halbwegs zufrieden bin. Ich bin halbwegs mit mir selbst zufrieden, mit meinem Job, mit meiner engeren Umgebung.
Damit hat man einen halbwegs zufriedenen Status, auch psychisch. Biologisch kann man das mit Serotonin erklären, während Glücksgefühle mit Dopamin zu tun haben.
Was kann der Einzelne beitragen, dass er mit seinem Leben zufrieden ist?
Er soll sich Menschen nähern, die ihm guttun und sich von jenen lösen, die ihm nicht guttun. Wie kann man das Arbeitsumfeld gestalten, dass man halbwegs zufrieden ist? Wie kann man mit sich selbst zufrieden sein, wenn man sich in den Spiegel schaut? Das ist wahrscheinlich das Allerschwierigste. Wenn man diese Faktoren im Griff hat, dann ist man halbwegs resilient.
Kann man das trainieren?
Ja, eindeutig. Einmal durch das bewusste Überlegen, wie man das eigene Umfeld gestalten kann. Dafür braucht man Unterstützung, denn man tut sich oft selber schwer, sich zu reflektieren. Das bedeutet nicht unbedingt ein professionelles Gegenüber wie einen Psychotherapeuten.
Das kann ein Mensch sein, dem ich vertraue und mit dem ich eine gute Gesprächsbasis habe. Ein sozialer Austausch über mich und mein Leben.
Welche weiteren Trainingsmöglichkeiten gibt es?
Ernährung und Bewegung. Sie helfen dem Gehirn. Es macht einen Unterschied, wie ich mich ernähre, wie psychisch resilient ich bin.
Wenn man sich bewegt, ist man mental besser drauf.
Ich meine damit nicht, dass jemand jeden Tag drei Stunden im Fitnessstudio ist oder einen Marathon läuft. Es geht generell um Bewegung. Sie löst unheimlich viel im Gehirn aus. Wer sich regelmäßig bewegt, hat einen anderen Hirnstoffwechsel.
Das Sonnenlicht ist ein Klassiker. Die Herbst-Winter-Depression entsteht durch einen Mangel an Sonnenlicht.
Ein weiterer Faktor ist der Schlaf. Schlechter Schlaf macht auf Dauer psychisch krank.
Wichtig ist auch das Lernen. Das Gehirn ist dann glücklich, wenn es mit gewissen mentalen Herausforderungen konfrontiert ist. Zum Beispiel in der Arbeit oder bei einem Hobby, das man spannend findet.
Manche lernen in der Pension eine neue Sprache oder ein Musikinstrument. Nicht nur, weil man Zeit hat, sondern weil es dem Gehirn auch guttut.
Eine der neuen Suchtformen ist Online-Sucht. Wie stark nimmt sie zu?
Wie viele Menschen süchtig sind, hängt von der Verfügbarkeit der Droge ab. Warum gibt es in Österreich mehr Alkoholkranke als Heroinsüchtige? Weil Alkohol viel verfügbarer ist als Heroin. In dem Land, wo ich geboren bin, ich bin Iraner, ist es genau umgekehrt. Es gibt ganz wenige Alkoholiker, aber es gibt unfassbar viel Heroin, weil es ein Nachbarland von Afghanistan ist.
Vor 30 Jahren gab es noch kein Internet. Seit 15 Jahren hat fast jeder ein Handy. Die Verfügbarkeit der Droge steigt und immer Jüngere haben Zugang zum Handy.
Die Jüngeren nutzen das Handy auch viel intensiver.
Für die Älteren ist es eher Werkzeug, für die Jüngeren ist es Kommunikations- und Unterhaltungsmittel im Alltag. Junge Menschen werden generell schneller süchtig nach allem. Wenn man einem Neunjährigen Zigaretten zum Rauchen gibt, wird er schneller süchtig als ein
50-Jähriger. Jetzt haben immer jüngere Menschen Handys zur Verfügung. Eine riesige Industrie hat diese jungen Menschen als Markt entdeckt. Ob das nun soziale Medien oder Computerspiele sind.
Die Kinder und Jugendlichen können sich dem kaum erwehren, weil sie die Mechanismen des Marktes nicht verstehen. Die sozialen Medien leben von den Süchtigen und nicht von jenen, die einmal im Monat hineinschauen.
Nimmt die Anzahl dieser Süchtigen zu?
Ja, sie nimmt zu, weil die Verfügbarkeit steigt. Es gibt in Österreich leider keine Zahlen, die aktuelle Zahlen stammen aus deutschen Bundesländern. Alle paar Jahre verdoppelt sich die Anzahl der Jugendlichen, die nach dem Handy oder dem Internet süchtig werden.
Die Universität Mainz hat 4.000 Studenten vor und während Corona über ihr Online-Verhalten befragt. Es ist massiv gestiegen. Warum soll es bei uns anders sein?
Wir haben in der Klinik seit 2010 eine eigene Ambulanz für Spielsucht. Die Anzahl der Menschen, die sich an uns wenden, ist enorm gestiegen. Zu Beginn ist im Monat vielleicht ein Student gekommen, der nach dem Spiel World-of-Warcraft süchtig war. Mittlerweile rufen Eltern von Neun- und Zehnjährigen an.
Die Anzahl ist massiv gestiegen, die Süchtigen sind massiv jünger geworden.
Dennoch kommen tatsächlich viel weniger Menschen persönlich in die Ambulanz als anrufen.
Ja, viele finden den Weg in die Ambulanz nicht. Ich habe einmal in der Woche Telefonsprechstunde. Mich rufen viele LehrerInnen, SchulpsychologInnen, SchulärztInnen an. Ich empfehle, einen Termin in der Ambulanz zu vereinbaren, das ist kostenfrei. Aber es melden sich dann tatsächlich viel weniger.
Warum?
Es ist vielleicht doch eine Hemmschwelle da, in ein Krankenhaus zu gehen. Vielleicht ist der Gedanke dahinter: Wir machen das erst dann, wenn es noch viel schlimmer wird.
Die deutsche Bundesregierung will Anfang April Cannabis für den privaten Konsum freigeben. In Tschechien gibt es Teillegalisierungen. Sie haben sich mit dieser Frage in ihrem Buch „Die Cannabis-Lüge“ auch beschäftigt. Was halten Sie von der Freigabe?
Wie immer man die Sache dreht und wendet, es gibt Vor- und Nachteile. Einen goldenen Weg gibt es nicht. Die Diskussion ist stark polarisiert. Wir müssen als Gesellschaft überlegen, welche Vorteile wir unbedingt haben wollen, und welche Nachteile wir in Kauf zu nehmen bereit sind.
Der Vorteil wäre Entscheidungsfreiheit, jeder kann entscheiden, ob er konsumiert oder nicht. Wir brauchen damit Polizei und Gerichte nicht beschäftigen, die haben wahrscheinlich Wichtigeres zu tun. Wir kriminalisieren den Konsumenten nicht.
Die Nachteile sehen wir in den Ländern, wo es bisher schon legalisiert wurde. Es gibt Firmen, die damit Profit machen, in Amerika gibt es Milliardenunternehmen, die Geld mit Cannabis machen. Jetzt kann man sagen, man verbietet Werbung, aber die Unternehmen finden trotzdem Wege.
In den USA ist Kiffen inzwischen viel cooler als Zigarettenrauchen. Wenn man Cannabis legal kaufen kann, steigt die Verfügbarkeit. Damit gibt es mehr Konsumenten. Da wird nicht jeder süchtig, ein gewisser Prozentsatz schon. Ein gewisser Prozentsatz wird auch psychotisch.
Wie hoch ist dieser Prozentsatz?
Das kann man nicht sagen. Es hängt davon ab, welches Produkt konsumiert wird. Die Psychose hängt auch stark von der genetischen Prädisposition ab. Wenn zum Beispiel die Eltern an Schizophrenie leiden und die Kinder kiffen, werden sie sicher auch eine Schizophrenie entwickeln.
In den USA gibt es alle Cannabis-Modelle, abhängig von den Gesetzen der jeweiligen Bundesstaaten. Man sieht dort eindeutig, dass sämtliche Probleme, von Verkehrsunfällen bis zur Schizophrenie und Suchterkranken, dort steigen, wo Cannabis legalisiert ist.
Es kiffen auch mehr Jugendliche unter 20 Jahren, wenn es für die Erwachsenen erlaubt ist. Das heißt, wir handeln uns damit diese Probleme ein.
Gibt es einen Kompromissweg?
Ein Strafrechtsexperte hat gemeint, man könnte Cannabis-Konsum aus dem Strafrecht rausnehmen und als Verwaltungsübertretung behandeln. Damit würde man die einzelnen Konsumenten entkriminalisieren, ohne es zu legalisieren.
Ihre Skepsis ist aber unüberhörbar, sie kommt auch in Ihrem Buch zum Ausdruck.
Nehmen wir das Beispiel Prohibition in den USA, die als schlimme Zeit dargestellt wird. Es gab in den USA nie so wenig alkoholsüchtige Menschen wie zur Zeit der Prohibition. Es gab damals nie so wenig Gewalttaten im alkoholisierten Zustand, vor allem gegenüber Frauen, wie zur Zeit der Prohibition.
Der Nachteil war, dass alle, die Alkohol konsumiert haben, kriminalisiert worden sind. Und dass die Mafia ein Riesengeschäft gemacht hat.
Aber was hat die Mafia gemacht, als man den Alkohol legalisiert hat? Sie ist ins Drogengeschäft eingestiegen. Seit Cannabis in den USA legalisiert worden ist, ist die mexikanische Mafia auf Fentanyl umgestiegen. Seither gibt so viele Fentanyl-Tote wie noch nie.
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