Der Bub auf dem Video ist zehn Jahre alt und sieht aus, als könnte er kein Wässerchen trüben, erzählt der Paschinger Bürgermeister Markus Hofko (ÖVP). In der Hand hält er einen Stein, der landet in einem Fenster.
Auf anderen Videos ist zu sehen, wie der Zehnjährige mit einem von der Feuerwehr gestohlenen desolaten Übungsauto auf den Felgen durch die Gegend fährt. Zuvor hat er einen Bagger und eine Straßenwalze in Betrieb genommen.
Im Einkaufszentrum PlusCity läuten seit Monaten die Alarmglocken, wenn der Bub auftaucht - und sofort sind Securitys im Anmarsch. Zuletzt sollen zwölf Polizisten im Einsatz gewesen sein, als er wieder durch den Ort zog.
Auch gegen sie war er mitunter aggressiv, hat gebissen, gespuckt und getreten. Viele dieser Taten wären strafbar. Aber nicht bei dem Buben - er ist bis zu seinem 14. Geburtstag strafunmündig.
"Der Unmut ist sehr groß im Ort", bestätigt Hofko, "bei uns ist ja jeden zweiten Tag etwas passiert."
Seit dem Vorjahr ist der Bub in einer betreuten Einrichtung im Ort untergebracht, diese gibt es seit rund 15 Jahren. Aber dass er als Bürgermeister "seit zwei Monaten nur mit einem Kind" beschäftigt sei, habe es noch nie gegeben.
Bürgermeister wurde laut
Alle zwei Tage hat der Bub zuletzt etwas angestellt. Erst als er "richtig laut" geworden sei, nach dem letzten Vorfall, sei etwas in Gang gekommen. Nämlich, dass für den Buben eine zweite Person vom Land zur Verfügung gestellt wird, die ihm - wie der erste Betreuer - auch 24 Stunden pro Tag zur Seite steht.
Reinhold Rampler ist Gruppenleiter-Stellvertreter in der Kinder- und Jugendhilfe des Landes Oberösterreich. Er kennt den Fall gut und rechnet vor: "Wir haben 277.000 Kinder und Jugendliche in Oberösterreich, 10.000 davon werden von uns mobil zu Hause betreut, 1.545 erhalten volle Erziehung." Sprich: 600 davon sind bei Pflegeeltern, etwas mehr als 900 in Einrichtungen wie jener in Pasching.
Bei 20 Kindern kommt System an die Grenzen
"Bei 20 davon kommt unser System an die Grenzen", räumt Rampler ein. Einer dieser "Systemsprenger" ist der Bub in Pasching.
85 Prozent der betreuten Kinder haben selbst traumatische Erfahrungen, sie sind oft in psychiatrischer Behandlung. Und ebenfalls oft ist ein Schulbesuch nicht möglich. Und wenn, ist ein Betreuer mit, "damit kein Unglück passiert", sagt Rampler.
Bei dem Buben hat ein Verantwortlicher nicht mehr gereicht. Deshalb hat das Land einen zweiten 24-Stunden-Betreuer genehmigt. Darüber ist Bürgermeister Hofko froh: "Jetzt ist seit ein paar Tagen nichts passiert."
"Picken wie ein Kaugummi an seinen Fersen"
Darüber ist auch Peter Heidlmair, Geschäftsführer des "Lebensraum Heidlmair", froh. "Nachgehendes Arbeiten" wird das im Fachjargon genannt. Heidlmair übersetzt: "Wir picken jetzt wie ein Kaugummi an seinen Fersen, wenn er sich aus der Wohngruppe entfernt."
In seiner Einrichtung lebt der Zehnjährige seit Oktober, Heidlmair und sein Team bemühen sich redlich um ihn. "Wir sind auf das Wohl des Kindes fokussiert, aber es darf nicht zu Lasten der Allgemeinheit gehen", weiß er.
Grenzverletzungen an der Tagesordnung
Denn Grenzverletzungen in der Dimension, wie sie bei diesem Buben an der Tagesordnung stehen, habe es bisher nicht gegeben. Das zeigt sich auch an den Schäden, lässt Heidlmair durchklingen: "Wir haben einen erhöhten Versicherungsschutz, aber der kommt auch an seine Grenzen."
Aber wie wird ein Kind so, wie dieser Junge? Ohne konkret auf den Fall eingehen zu wollen, sagt Heidlmair: "Unsere Kinder haben zu 99 Prozent eine Bindungstraumatisierung."
Soll heißen: Sie haben schon als Kleinkinder keine funktionierenden Beziehungen erlebt. Dazu kommen oft Gewalterfahrungen. "Sie entwickeln Strategien, um emotional zu überleben", versucht Heidlmair zu erklären. Die bei dem betroffenen Buben eben zu den amtsbekannten Delikten geführt haben.
Und kann dem Buben geholfen werden? "Ja", sind Heidlmair und Rampler überzeugt. Und das hofft auch Hofko - deshalb ist bei allem Ärger immer noch ein Funken Verständnis vorhanden.
Bindungs- und Beziehungsarbeit
"Die Kinder sollen bei uns sichere Bindungen erleben", erläutert Heidlmair, "sobald es eine Beziehung gibt, entwickeln die Kinder eine Loyalität zu ihren Betreuern." Deshalb sei eine Verlegung keine Hilfe.
Wenn die Kinder verstehen, dass ihre Taten etwa die Konsequenz haben, diesen Betreuer wieder zu verlieren, sei diese Beziehung im Entstehen. Deshalb sind die Betreuer gerade in dieser heiklen Phase immer noch für den Buben da.
Diese funktionierende Beziehung könne dann nach und nach auch auf andere Personen übertragen werden. Heidlmair: "Solange die Bereitschaft meiner Mitarbeiter so ungebrochen ist, mit dem Buben zu arbeiten, habe ich Hoffnung."
Debatte um härtere Maßnahmen
Bleibt noch die Frage nach schärferen Maßnahmen. Hofko sagt: "Das ist ein einzigartiges Kind, das einzigartige Probleme verursacht, da braucht es auch einzigartige Maßnahmen." Und im Ort fragen sich sowieso längst alle: "Was tut der mit zwölf oder dreizehn Jahren?"
Die Kinder- und Jugendhilfe versuche alles, könne aber nicht "garantieren, dass es keine Straftaten mehr gibt". Eine Senkung des Strafalters hält Rampler - vor allem mit Blick auf die Entwicklungsgeschichte dieses Buben - für nicht zielführend.
"Wir wollen eine persönliche Nachreifung ermöglichen", sagt er, "ein Kind strukturell einzusperren, ist nicht erlaubt." Dazu bedürfe es neuer bundesgesetzlicher Regelungen.
Dass eine Senkung des Strafalters "gut überlegt sein müsste", sagt auch Heidlmair. In Deutschland sind 150 Kinder in "verbindlichen Anstalten" untergebracht - sprich: nach genauer Überprüfung so gut wie eingesperrt.
Dazu sagt Heidlmair: "Es wird eine Anpassung bei uns brauchen, im Sinne des Kindes und im Sinne der Gesellschaft, die darunter leidet." Denn die Beziehungsarbeit mit einem Kind müsse auch handlungsfähig bleiben - und bei manchen Kindern sei das dann nicht mehr gewährleistet.
Im Moment hoffen Hofko, Heidlmair und Rampler, dass die verbesserte Betreuung nachhaltig wirkt. Und bei allem Verständnis für die dramatische Geschichte des Buben hofft das auch die leidgeprüfte Paschinger Bevölkerung.