ÖVP-Absturz: Die Macht in der Regierung ist weg
Der prognostizierte politische Paradigmenwechsel in Niederösterreich ist eingetreten: Die ÖVP unter Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner musste in ihrem Kernland herbe Verluste hinnehmen.
Die ÖVP erreichte 39,9 Prozent der Stimmen (vorläufiges Endergebnis) – ein Minus von 9,7 Prozentpunkten gegenüber 2018 – und hat damit nicht nur die Mehrheit im Landtag, sondern erstmals in der Zweiten Republik auch die Mehrheit in der Landesregierung verloren.
Es ist das historisch schlechteste Wahlergebnis der niederösterreichischen ÖVP. Dass Mikl-Leitner nicht deutlich unter ihrem Wahlziel von 40 Prozent zu liegen kam, ist da nur Kosmetik.
Großer Wahlsieger ist die FPÖ, die sich auf Platz zwei katapultieren konnte: Die Freiheitlichen legten um 9,4 Prozentpunkte zu, sie kommen auf 24,2 Prozent – und feiern unter Spitzenkandidat Udo Landbauer damit zugleich ihr bestes Ergebnis in der Geschichte.
Schwäche der SPÖ
Eine blau-rote Mehrheit im Landtag gegen die ÖVP, vor der Mikl-Leiter im Wahlkampf immer wieder gewarnt hatte, gibt es nicht. Und das ist vor allem der Schwäche der SPÖ geschuldet, die ebenfalls auf einem historischen Tiefstwert landete: Sie erreichte 20,7 Prozent der Stimmen, das ist ein Minus von 3,2 Prozentpunkten. Die SPÖ unter Franz Schnabl ist damit die einzige Partei, die nicht von den Verlusten der ÖVP profitieren konnte.
Niederösterreich hat gewählt: Der Wahltag in drei Minuten
Groß waren die Verluste der ÖVP vor allem in den ländlichen Regionen, in Bezirken im Wald- und Mostviertel gab es teils Verluste im zweistelligen Bereich. Alleine im Bezirk Scheibbs betrug das Minus 16 Prozentpunkte. Die FPÖ verzeichnete in den Gemeinden demgegenüber zumeist Zuwächse in gleicher Höhe. Dass die ÖVP nicht noch schlechter abschnitt, lag an den größeren Städten und Wiener Umlandgemeinden, in denen ihr Minus teils geringer ausfiel.
Ein Unsicherheitsfaktor für alle Parteien war der Wegfall der rund 100.000 Zweitwohnsitzer, die nach einer Reform des Wahlrechts erstmals nicht mehr ihre Stimme abgeben durften.
Ihr Wahlziel erreicht haben hingegen die Grünen: Sie legten um 1,2 Prozentpunkte auf 7,6 Prozent der Wählerstimmen zu. Sie konnten sich damit jenes vierte Mandat im Landtag sichern, das der Partei den wichtigen Klubstatus und damit auch zusätzliche finanzielle Mittel einbringt.
Die Neos erreichten 6,7 Prozent der Stimmen (plus 1,5 Prozentpunkte). Die Impfgegner-Partei MFG, die nur in fünf Bezirken antrat, verpasst mit 0,5 Prozent deutlich den Einzug in den Landtag.
Im Landtag kommt die ÖVP auf 23 Sitze (ein Minus von sechs), für eine absolute Mehrheit sind 29 Mandatare nötig (Details siehe Grafik). In der Landesregierung, die nach dem Proporzsystem bestellt wird, erhält die ÖVP vier Sitze; drei Posten gehen an die FPÖ, zwei an die SPÖ. Damit muss Mikl-Leitner sich einen Koalitionspartner suchen, um politisch handlungsfähig zu bleiben. Bisher reichten ihr unverbindlichere Arbeitsübereinkommen mit den anderen Parteien.
Eine Mehrheit gegen die ÖVP ist rechnerisch möglich, politisch aber unwahrscheinlich. Immerhin bräuchten FPÖ und SPÖ dafür einen dritten Partner; weder Grüne noch Neos dürften zur Verfügung stehen. FPÖ-Chef Landbauer erneuerte am Sonntag seine Ansage, Mikl-Leitner mit seiner Fraktion nicht zur Landeshauptfrau wählen zu wollen. Eine schwarz-blaue Koalition komme für die FPÖ nur unter einem neuen ÖVP-Chef infrage, hieß es. Mikl-Leitner hingegen wollte in der „ZiB2“ einen Vize Landbauer nicht ausschließen.
Einer Personaldiskussion muss sich SPÖ-Mann Schnabl stellen. Auch wenn er versuchte, diese wegzuwischen – es brodelt in der Partei. „Warum soll Feuer auf dem Dach sein?“, fragte Schnabl. Er habe ein lachendes und ein weinendes Auge. Positiv sei, dass die ÖVP-Absolute gefallen sei. Negativ sei, dass die SPÖ „nicht stärker“ geworden sei.
Die ÖVP-Chefin fand am Abend gleich mehrere Verantwortliche für das schlechte Abschneiden: Man habe „Angriffen und Untergriffen“ trotzen müssen. Zudem sei die Wahl gekennzeichnet von „einer Protestwelle, die über das ganze Land rollt und auch vor Niederösterreich nicht halt macht“ – ausgelöst von der unsicheren Lage in der Welt, aber auch von „der Unzufriedenheit mit der Bundesregierung“.
Der Angesprochene – ÖVP-Obmann und Bundeskanzler Karl Nehammer – trat direkt nach Mikl-Leitner vor die Medien und nahm die Kritik an Türkis-Grün auf: Man nehme das Wählervotum „im Zeichen der andauernden Krise, beschwert von Teuerung und Inflation, ernst“.
Zufrieden zeigte sich Nehammer damit, dass die ÖVP trotz Verlusten „klar erste Partei“ blieb. Nicht das erste Mal, dass die Türkisen diese Argumentation bemühen – auch bei den Wahlen in Tirol und Oberösterreich stürzte man von hohem Niveau ab, konnte aber die Vormachtstellung bewahren.
In Zeiten „komplexer Probleme“ würden oft jene profitieren, „die sehr einfache Antworten haben“, meinte Nehammer – wohl mit Blick auf das FPÖ-Ergebnis.
Übrigens: Im Landtag – nicht in der Regierung – hat die ÖVP bereits einmal die absolute Mehrheit verloren. Und zwar unter Erwin Pröll 1993. Es sollte zehn Jahre dauern, bis man sie zurückeroberte.
Kommentare