80 Jahre nach Massaker an 180 Juden: Neue Suche nach dem Massengrab
Fast genau 80 Jahre nach dem Massaker an mindestens 180 jüdischen Zwangsarbeitern könnte es bald wieder einen Versuch geben, das Massengrab nahe des Rechnitzer Kreuzstadls zu finden. In den 1960er-Jahren wurde mit der Suche begonnen, seither gab es 18 Misserfolge.
„Wenn ich mich irre, dann bin ich Nummer 19. Aber diese Geschichte muss an die Öffentlichkeit gebracht und ein Schlussstrich gezogen werden. Ich glaube, ich habe die notwendigen Einzelteile der Geschehnisse zusammengetragen und bin mir ziemlich sicher, den Ort der Massengräber gefunden zu haben.“
In diesem Artikel lesen Sie:
- Wie anhand von bekannten Aussagen neue Hinweise zur Lage des Massengrabs gefunden wurden
- Warum der Vorfall aus dem Jahr 1945 wie ein dunkler Schatten über der Gemeinde Rechnitz liegt
- Wie die neue Suche vorbereitet wird und wer daran beteiligt ist
- Was im Fall des Fundes mit den menschlichen Überresten passieren soll
Das sagt Dietmar Lindau, früherer Tourismusdirektor von Bad Tatzmannsdorf, heute in Pension und Erhalter einer kleinen Pferderanch direkt neben dem Kreuzstadl. Seit vier Jahren verbringt er so gut wie jeden Tag auf dem Gelände und ist ständig mit dem Anblick jenes Bauwerks und der grauenvollen Historie konfrontiert, die dunkle Schatten sowohl auf die ältere als auch die jüngere Geschichte der südburgenländischen Grenzgemeinde wirft.
„Rechnitz hat nicht geschwiegen, aber die Menschen, die den Krieg erlebt haben, hatten Angst. Und man hat ihnen vielleicht nicht genau zugehört. Außerdem war kein Rechnitzer an der Ermordung der Zwangsarbeiter beteiligt“, sagt Lindau, der als gebürtiger Rechnitzer eine Bürde vom 3.100 Einwohner zählenden Ort nehmen will: die Last des Schweigens.
Schweigen? Angst!
Jenes Schweigen, das der Rechnitzer Bevölkerung immer zum Vorwurf gemacht wurde. Zum Beispiel im Film „Totschweigen“ (1994), konkret etwa in jener Szene, als eine betagte Rechnitzer Bürgerin ihre Fensterläden in jenem Moment zuschlägt, als die Kamera auf sie gerichtet wird.
Bau des Südostwalls
In der Nähe des Kreuzstadls des Gutes Batthyány im südburgenländischen Rechnitz wurden im März 1945 rund 180 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter von den Nazis ermordet und verscharrt. Die Mörder hatten ein Gefolgschaftsfest im örtlichen Schloss verlassen und feierten nach der Tat weiter.
Nach den Überresten der Ermordeten wird bis heute gesucht. Seit 1991 ist dabei die Initiative RE.F.U.G.I.U.S. - Rechnitzer Flüchtlings- und Gedenkinitiative und Stiftung rund um den Pianisten Paul Gulda besonders aktiv
300.000 Quadratmeter
So groß ist die Fläche, auf der sich das Massengrab befinden könnte. Trotz der zahlreichen Grabungen in den vergangenen Jahrzehnten wurden bisher aber nur rund 20 Prozent der in Frage kommenden Fläche nahe der Grenze zu Ungarn untersucht
Just in diesem Film findet sich eines jener Indizien, das Lindau glauben lässt, das Massengrab gefunden zu haben. Im Zuge seiner mehrjährigen Nachforschungen haben sich die Hinweise zu einem so konkreten Bild geformt, dass Lindau jetzt damit an die Öffentlichkeit geht.
Neue Messungen
Verschiedene offizielle Stellen wie das Innenministerium, das Bundesdenkmalamt, die Israelitische Kultusgemeinde und das Land sind bereits informiert. Letzteres hat bereits eine eigene Task Force gegründet. Noch heuer sollen Bodenmessungen mit neuester Technologie durchgeführt werden, um Lindaus Vermutungen zu verdichten.
Ob dann auch – zum 19. Mal – gesucht und gegraben wird, steht aber noch nicht fest. Schließlich hatte das Bundesdenkmalamt im Zuge der jüngsten Suche im Jahr 2021 angekündigt, diese einstellen zu wollen. „Meine Erkenntnisse wurden dort aber mit großem Interesse aufgenommen und der Fall Rechnitz zur Chefsache erklärt“, erzählt Lindau dem KURIER.
Und was dann?
Eine Sache ist ihm wichtig: „Bevor die Grabungen beginnen, muss klar sein, was im Fall eines Fundes passiert.“ Denn das Massengrab fällt unter das Kriegsgräbergesetz aus 1948, muss demnach erhalten und öffentlich zugänglich bleiben.
Das Innenministerium kann einer Umbettung zustimmen, wenn die menschlichen Überreste einen würdigen Platz finden. Letztendlich sollen die ermordeten Zwangsarbeiter auf dem jüdischen Friedhof in Rechnitz ihre letzte Ruhestätte erhalten. Dafür hat Lindau bereits ein Einverständnis mit der Israelitischen Kultusgemeinde erwirken können.
Was macht ihn nun aber so sicher, dass seine Erkenntnisse zum Erfolg führen? Neben Aussagen wie eben jene aus dem Film oder Zeugenaussagen aus den 1945 und 1948 durchgeführten Prozessen, sind es vor allem dunkle, rechteckige Verfärbungen auf den Bildern von Bodenmessungen aus dem Jahr 2016. Diese sind in einem schon etwas abfallenden Teil des Geländes zu finden.
„Die Vernehmungsprotokolle aus den Gerichtsverhandlungen liefern eine genaue Beschreibung des Tatortes und des Ablaufes“, sagt Lindau. Demnach befindet sich das Massengrab nahe des Kreuzstadls, der in Richtung ungarischer Grenze gelegene Panzergraben wurde nicht überquert.
„Das ist logisch, weil mit Hunderten todkranken Menschen kann man mitten in der Nacht diesen Stellungsbau nicht überwinden“, sagt Lindau, der seine Argumentation beim Besuch des KURIER akribisch vorbereitet hat und dadurch erkennen lässt, wie ernst er die Angelegenheit nimmt.
Außerdem habe es früher hier das 1952 errichtete sogenannte „Judengartl“ gegeben. Dieses war auch in einem alten Plan auf Grundstück Nr. 8815 eingezeichnet, ist im Laufe der Jahre aber verschwunden. „Oder es wurde entfernt, zu den Akazien, wie es damals geheißen hat“, sagt Lindau.
Wo ist das Grundstück?
Zudem machte ihn stutzig, dass nach einem Grundstückstausch Anfang der 1960er-Jahre zwischen der Batthyany Gutsverwaltung und den Bauern eine große Fläche aufgeteilt wurde – und dass sein Grundstück eigentlich aus zwei Teilflächen besteht, eine davon nur knapp über fünf Meter breit. Das macht in seinen Augen keinen Sinn, stützt aber die Vermutung, dass damals die Lage des Grabes bekannt war und diesen Streifen niemand haben wollte.
Auch die besagte Grundstücksnummer 8815 ist mit der Neuvermessung verloren gegangen. Zur weiteren Lageeingrenzung dient Lindau auch die Aussage eines Rechnitzers, der die Umzäunung des Grabes in den 1950er-Jahren immer dann gesehen hat, wenn er mit dem Bus von Schachendorf kommend nach Rechnitz gefahren ist und auf Höhe des Kreuzstadls in östlicher Richtung aus dem Fenster blickte.
„Drei Bäume“
Und dann gibt es noch den Hinweis eines Zwangsarbeiters, der in der Nacht am 24. März 1945 am Aushub der Gräber mitbeteiligt war. Demnach war es eine mondhelle Nacht und er kann sich an „drei Bäume“, die vom Grab aus zu sehen waren, erinnern.
Deren Standort hat Lindau anhand alter Luftaufnahmen und Fotos rekonstruiert. Tatsächlich zeigt sich beim Lokalaugenschein des KURIER, dass die Sichtachsen von besagtem Punkt aus allesamt gegeben sind – zum Bus auf der Straße und zu den drei Bäumen, von denen heute nur noch Stümpfe im Boden übrig sind.
Und auch zu den Akazien am hinteren Teil des früheren Meierhofs, also dort, wo man „Dinge aus dem Garten hin räumt, die aus dem Blick verschwinden sollen“, sagt Lindau. So wie eben auch das besagte „Judengartl“, die ehemalige Einzäunung des Massengrabes.
Die jüngste Grabung fand im Jahr 2021 auf Lindaus Grundstücken statt, dabei blieb aber das erwähnte schmale Grundstück unberührt. Laut Lindaus Erkenntnissen könnte das Massengrab damals nur knapp verfehlt worden sein.
„Ich habe den Grabungsleiter auf die auffälligen Flächen hingewiesen, wurde aber mit den Worten ,das sind einfach Störungen‘ abgewimmelt. Ich bin mir da aber nicht so sicher.“
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