Umstrittene Spiele in Sotschi

Der Anschlag in Wolgograd macht Putins Charmeoffensive einen Strich durch die Rechnung.

Vor dem Jahreswechsel und den orthodoxen Weihnachtsfeiertagen war am Bahnhof von Wolgograd großer Betrieb. Mitten im Getümmel dann die Explosion. Am Eingang zu dem Gebäude, wo die Reisenden mit Metalldetektoren durchsucht werden, sprengte sich eine Person in die Luft. Wie es später hieß, anscheinend eine Frau. Mindestens 15 Menschen starben, Dutzende wurden verletzt. Wolgograd liegt 700 Kilometer Luftlinie von Sotschi entfernt, wo kommenden Februar die Olympischen Winterspiele steigen – derzeit des Kremls liebstes Prestigeprojekt.

Umstrittene Spiele in Sotschi
Der Anschlag vom Sonntag wirft ein düsteres Licht auf die Spiele, die seit ihrer Vergabe von Sicherheitsbedenken überschattet waren. Sotschi liegt am Rande der notorisch unruhigen Kaukasusregion, und kaukasische Islamisten haben sie offen zum Ziel erklärt. Für die russischen Sicherheitskräfte sind sie eine beispiellose Operation.

Bereits im Oktober hatte sich in Wolgograd eine Frau in einem Bus in die Luft gesprengt und sechs Menschen getötet. Und erst vergangenen Freitag war in der Stadt Pjatigorsk in Südrussland vor einer Polizeistation eine Bombe explodiert. Für den Kreml, der in den vergangenen Wochen so ziemlich alles tat, um der Welt die Spiele in Sotschi schönzureden, kommen diese Nachrichten einer Ohrfeige gleich.

Schon als es um die Vergabe der Olympischen Winterspiele 2014 ging, war Russlands Präsident Wladimir Putin persönlich zur Endrunde nach Guatemala geflogen, um dort mit seinem ganzen Gewicht zu werben: Für Sotschi, für Mutter Heimat, für den Sieg. Bedenken wegen der instabilen Sicherheitslage im Nordkaukasus und der maroden Infrastruktur fegte er mit Visionen und Ambitionen vom Tisch.

Aber Euphorie wollte sich nicht einstellen. Eher das Gegenteil. Sicherheitsbedenken, Probleme beim Bau von Sportanlagen, Berichte über Landenteignungen und Proteste in Sotschi selbst sollten nur den Auftakt bilden. Ebenso die Niederschlagung der Proteste um Putins dritte Präsidentenwahl.

Gerade in den vergangenen Wochen war der Ruf aus dem Ausland nach einem zumindest politischen Boykott der Spiele laut geworden. Zuletzt war es US-Präsident Barack Obama, der die offen lesbisch lebende ehemalige Tennisspielerin Billie Jean King an die Spitze der US-Delegation für Sotschi setzte – und damit einen unmissverständlichen Kommentar zu Putins Anti-Homosexuellen-Politik setzte. Und überall in europäischen Ministerräten wurde beraten, wie man die Spiele handhaben sollte. Aus Sicht Moskaus ließ das Böses erahnen.

Die Antwort: Liebesgrüße. Eine Charmeoffensive, wie sie Russland unter Putin nie gesehen hat. Erst eine Massenamnestie, die prominente Oppositionelle betraf – die Pussy-Riot-Aktivistinnen – und dann die Begnadigung Chodorkowskis.

Die Schmach tilgen

Putin geht es in Sotschi vor allem darum, die Schmach von 1980 zu tilgen, als die Olympischen Sommerspiele in Moskau vom Westen boykottiert wurde. Sechs Monate zuvor war die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert. Zwar rächte sich der Ostblock vier Jahre später mit Boykott der Spiele in Los Angeles. Doch die USA traf das weniger hart als die Sowjets. Sie standen nicht vor der Aufgabe, die Überlegenheit ihres Gesellschaftsmodells beweisen zu müssen.

Putin wäre zwar nicht am Ende gewesen, hätte er die Spiele nicht nach Sotschi geholt. Liebesentzug wäre ihm dennoch – trotz schaumgebremster Begeisterung der Russen – so sicher gewesen wie das Amen im Gebet. Ein russischer Präsident, noch dazu einer mit Supermacht-Anspruch wie Putin, hat zu siegen. Koste es, was es wolle. Und es kostet viel.

Mit rund 50 Mrd. Dollar – zehn Mal mehr als geplant – sind die Spiele von Sotschi die mit Abstand teuersten der Geschichte. Sie wären es selbst dann, wenn ein Teil der Mittel nicht in dunklen Kanälen versickert wäre. In Sotschi soll jenes „Land der Träume“ konkrete Gestalt annehmen, wie es Putin gerne weichzeichnete: ein Hightech-Russland, eine boomende, zukunftsorientierte Weltmacht frei von Minderwertigkeitskomplexen.

Das Konzept funktioniert nur aus architektonischer Sicht. Putin und seine Polittechnologen denken nach wie vor in Kategorien eines Obrigkeitsstaates mittelalterlicher Prägung, der seine Bürger zu Untertanen degradiert. Russland sei ein Ferrari, der mit angezogenen Bremsen im dritten Gang fährt, höhnen jene, die auf Verbesserungen des Investitionsklimas drängen. Auch dieses Ziel hat Putin in Sotschi um Längen verfehlt. Die Privatwirtschaft fürchtet bereits um ihr Geld: Nach den Spielen könnten viele Objekte leer stehen – vor allem die Hotels, deren Preise selbst für westliche Besucher gewöhnungsbedürftig sind.

Damit hat sich noch ein Ziel erledigt, was auch der Anschlag von Wolgograd vor Augen führt: Nachhaltigkeit, die für eine florierende Tourismusbranche, Jobs und vor allem Stabilität in der gesamten verarmten und notorisch unruhigen Kaukasus-Region sorgen sollte.

Das Skigebiet Krasnaja Poljana braucht Vergleiche mit Kitzbühel oder Courchevel in den französischen Alpen nicht zu scheuen. Harmonisch fügen sich Nobelherbergen in die Berglandschaft des Nordwestkaukasus. Beim Anblick der Pisten und Loipen rollten sogar ehemalige Ski-Rennweltmeister verzückt mit den Augen. Jean-Claude Killy, der in den Siebzigern Olympisches Gold für Frankreich holte und jetzt im Auftrag des Internationalen Olympischen Komitees die Vorbereitungen für die Spiele in Sotschi koordiniert, hauchte im September bei der Abnahme ein „magnifique“ („großartig“) in die Mikros.

„Magnifique“ äfft Fatima Schemuchowa den Franzosen nach. Die 23-Jährige ist bei „No-Sotchi“ aktiv, einer Gruppe, die Widerstand gegen die Spiele organisiert. Weil sie auf den Leichen eines ganzen Volks ausgetragen werden. Buchstäblich.

Dort, wo im Februar die Wettkämpfe in den alpinen Disziplinen stattfinden, watete vor genau 150 Jahren die Zarenarmee im Blut der Tscherkessen. Sie sind die Ureinwohner des Nordwest-Kaukasus und der kaukasischen Schwarzmeerküste und wurden von Russland erst im Großen Kaukasuskrieg unterworfen. Einem Krieg, der mit kurzen Unterbrechungen über hundert Jahre dauerte – von 1763 bis 1864.

Stammesführer der Tscherkessen erklärten sich 1861 zwar bereit, die Oberhoheit des Russischen Imperiums anzuerkennen. Gegen die Umsiedlung aus den Bergen in die flache Küstenebene wehrten sie sich aber. Die russische Armee setzte ab 1862 die Vertreibung mit Gewalt durch und brannte die Dörfer der Tscherkessen nieder. Zehntausende starben.

Deportationen

Wer überlebte, wurde an die Schwarzmeerküste gebracht. Dort warteten schon Boote für die kollektive Deportation ins Osmanische Reich. Um ihr zu entgehen, stürzten sich bei Krasnaja Poljana Hunderte Tscherkessen in die Schlucht. Darunter Frauen mit Babys im Arm.

In Russland leben heute nur noch 700.000 Tscherkessen, verteilt auf drei Teilrepubliken. Zwar verabschiedete das postkommunistische Russland schon 1992 ein Gesetz zur Rehabilitierung verfolgter Völker. Auf eine offizielle Entschuldigung oder gar Entschädigungen warten die Tscherkessen aber bis heute.

Auch bei den Olympischen Spielen in Sotschi bleiben die Tscherkessen außen vor. Sie dürfen nicht mit ihrer Symbolik werben. Führer ihrer Organisationen wurden nach dem Austausch von Unfreundlichkeiten mit staatlichen Sportfunktionären zum Schweigen verdonnert.

Doch nicht alle lassen sich den Mund verbieten. „Wir möchten“, so auch der Chef der Organisation „Adyge Chasse“ in der Teilrepublik Kabardino-Balkarien, Muhammed Hafiz, „dass an allen Veranstaltungen mit Bezug zu Olympia 2014 die Vertreter aus tscherkessischen Republiken zusammen mit den tapferen Kosaken teilnehmen.“

Der Hohn ist nicht mehr zu überbieten. Kuban-Kosaken, das ist historisch belegt, haben im Großen Kaukasuskrieg noch mehr geplündert und gemordet als die regulären Truppen. Dennoch weht ihr Banner heute auf dem Gebäude von Sotschis Stadtverwaltung. Es steht auf den Trümmern des Parlaments, wo Mitte des 19. Jahrhunderts die tscherkessische Nationalversammlung tagte.

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