Vom Prediger zur Großmacht

Alles begann mit Jesus von Nazareth, der nie eine Institution gründen wollte. Und doch wurden die Christen zur globalen Macht. Wie es dazu kam, beschreibt der KURIER in einer großen Serie.

An der altrömischen Ausfallstraße Via Appia Antica im Süden von Rom steht außerhalb der Porta San Sebastiano die kleine Kirche Quo Vadis. Sie erinnert an die in den apokryphen (nichtamtlichen) Petrus-Akten erzählte Legende von Petrus, dem behaupteten Gründer auch der Christengemeinde von Rom, der die Stadt aus Angst vor Verfolgung verlassen wollte und an dieser Stelle Jesus begegnet sei, den er fragte: „Quo vadis domine (Wohin gehst du, Herr)?“ Dessen Antwort: „Nach Rom, um noch einmal gekreuzigt zu werden!“ Beschämt machte Petrus auf der Stelle kehrt, um in die Stadt zurückzukehren. Dort soll er um das Jahr 67 gekreuzigt worden sein.

Legenden, Vermutungen, aber ausdrucksstark. Religion braucht sinnbildhafte Erzählungen mit Glaubwürdigkeitsanspruch. Petrus ging sehenden Auges in einen Tod als Märtyrer (Zeuge) – wie viele vor ihm, mit ihm, nach ihm. „Sanguis martyrum semen Christianorum“ machte bald die Runde: „Das Blut der Märtyrer ist der Samen für Christen“. Für eine faule Sache geht man nicht freiwillig in den Tod. Diese Überzeugung war eines der ersten Motive, den Boten der neuen Religion Gehör zu schenken. Die Apostel vollbrachten Wunderzeichen, verkauften Besitz zugunsten der Armen und feierten in Hausgottesdiensten das Gedächtnis des Herrn. „Schaut euch an, wie sie einander lieben“, schilderte der antike Schriftsteller Tertullian ihr Leben.

Jesus hatte kein Priester- und kein Bischofsamt und schon gar nicht eine Institution Papsttum begründet. Auf der ersten Kirchenversammlung („Apostelkonzil“) in Jerusalem hatte sich der Auftrag des Herrn, alle Völker zu lehren und zu taufen, einschließlich der Überzeugung durchgesetzt, dass Nichtjuden nicht die große Vielfalt jüdischer Speise- und Kleidergesetze aufgebürdet werden sollte. Seit Pfingsten war man gewiss, dass der Geist Gottes über Junge und Alte, Männer und Frauen, selbst Mägde und Knechte ausgegossen worden war.

Die Kirche nimmt Form an

„Es gehört zu den großen Leistungen der christlichen Anfangszeit, dass es gelungen ist, das Ethos der wandernden Jesus-Gruppe in ein Ethos von sesshaften christlichen Gemeinden zu übersetzen“, schrieb Peter Pawlowsky 1994 in dem Band „Christentum.“ Bald gab es Christengemeinden im gesamten östlichen Mittelmeerraum und im Nordwesten bis hin nach Rom.

Natürlich brauchen größere Gemeinden Strukturen und Leitungsorgane. Verschiedene Dienste und Ämter (Vorsteher, Bischöfe, Pfarrer) entwickelten sich. Unter mehreren römischen Kaisern waren Christen Verfolgungen ausgesetzt, aber das Toleranzpatent, die Mailänder Vereinbarung („Konstantinische Wende“) und die Proklamation als „Reichskirche“ brachten zum Ende des 4. Jahrhunderts Sicherheit, Prestige und neuen Zulauf.

Damit wurde die junge Kirche in einen Abgrund hineingezogen. Sie hing am Gängelband der Staatsmacht, die Anpassung verlangte. Bisher hatten sich Christen geweigert, Soldaten zu werden – weil sie keinen Eid auf den Kaisergott ablegen wollten und nicht, weil sie die Friedenspflicht der Bergpredigt schon so ernst nahmen. Jetzt durften auch und bald nur noch Christen Soldaten werden. Und die weltlichen Machthaber mischten sich bald auch in die Glaubenslehre ein.

Das Credo, das katholische Christen in jeder Sonntagsmesse beten, wurde in seinem Wortlaut in den ersten Jahrhunderten formuliert. Die Formulierungen wurden im Wesentlichen auf den ersten vier allgemeinen (ökumenischen) Konzilien zwischen 325 und 451 festgelegt: in Nicaea, Konstantinopel, Ephesus und Chalcedon. An keinem nahm der Bischof von Rom teil, der damals schon den Vorrang vor allen übrigen Bischöfen beanspruchte. Reformgegner herhören: Alle vier wurden von römischen Kaisern einberufen, den Papst vertraten Legaten (Bischöfe, zuletzt auch Priester, Diakone, Lektoren), gebildete Laien durften als Beobachter dabei sein!

Dass die weite Entfernung von Rom nach Konstantinopel (heute Istanbul), der Hauptstadt des Oströmischen Reiches, den Päpsten auf die Nerven ging, lässt sich freilich verstehen. Ein Ausweg bot sich, als es in ganz Europa politisch und militärisch brodelte und sich Papst Leo III. vom römischen Stadtadel allzu heftig bedrängt fühlte. Er lud den Frankenkönig Karl nach Rom ein, wo dieser im November 800 einen „Reinigungseid“ leistete – eine Zweitheirat nach Verstoßung der ersten Frau nahm sich nicht sehr christlich aus. Danach wurde ihm in St. Peter in der Christmette vom Papst eine Kaiserkrone übergestülpt. Ein bisschen, so schien es manchen, bog er aus Überraschung den Kopf zur Seite. Aber die Krone blieb dann doch sitzen und das Abendland hatte nach 476 Jahren wieder einen eigenen Kaiser, die Einheit von Kirche und Reich war jetzt auch in Westeuropa Gesetz.

Gut ein Vierteljahrhundert später gewann ein Papst eine Machtprobe. Tagelang stand der Frankenkönig Heinrich IV. im November 1076 im Büßerhemd vor den verriegelten Toren der Burg Canossa in der Emilia Romagna und erbat vom drinnen sitzenden Papst Gregor VII. die Befreiung vom Kirchenbann. Den hatte er ausgefasst, nachdem er die deutschen Bischöfe ihrer Gehorsamspflicht gegenüber dem Papst, den er nur mit „Herr Hildebrandt“ anredete, entbunden hatte. Nach vier Tagen Buße im Novemberwind, „ohne die geringste Pracht, barfuß“, war er den Bannfluch los, und im Übrigen verlief laut neuerer Geschichtsforschung alles gar nicht so demütigend, wie man es aus papstnahen Berichten (Marketing anno dazumal) herausgelesen hatte.

Der Machtkampf zwischen Kaisern und Päpsten, wer Bischöfe und Äbte ernennen sollte („Investiturstreit“), nahm immer unappetitlichere Formen an, ein Kaiser setzte drei Päpste ab, die Bischöfe Oberitaliens exkommunizierten einen Papst. Man wundert sich, dass es noch mehr als 400 Jahre dauerte, bis die westeuropäische Kirche an der Reformation zerbrach. Die Lehren von Luther, Zwingli und Calvin verbreiteten sich wie ein Steppenfeuer, nicht zuletzt dank der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg. Dass man sich von ewigen Höllenqualen mit Geld oder Schaf und Kuh freikaufen konnte („Ablasshandel“) und selbst für eine Hostie auf der Zunge bisweilen drei Kreuzer berappen sollte, hatte weitum im Land Empörung ausgelöst. War die Trennung zwischen Ost- und Westkirche im Schisma von 1054 noch ein Schock auf Distanz gewesen, brannte seit 1517 die Kirche mitten in Europa.

Dreißigjähriger Krieg

Das Konzil von Trient (1545–’63) formulierte ein Reformprogramm für die katholische Kirche. Priesterseminare wurden gegründet, Orden ins Land geholt. Der Augsburger Reichs- und Religionsfrieden schuf 1555 einen unseligen Kompromiss: Jeder Landesfürst durfte die Religion seiner Untertanen bestimmen. Wo die katholischen Habsburger regierten, vertrieben sie im Zug der Gegenreformation die Protestanten. Erst der mörderische 30-jährige Krieg ab 1618 ließ allmählich auf beiden Seiten die Einsicht dämmern, dass Glaubensverbreitung durch Gewalt keine Lösung sein konnte.

Schon im frühen Mittelalter hatte Franz von Assisi, der Sohn eines reichen Kaufmanns in Umbrien, den der Kirche eigentlich zugedachten Weg der Besitz- und Machtlosigkeit zu weisen versucht. Der Heilige wirkt bis heute in vielen europäischen Kirchengemeinden Europas nach – weil sein Ideal immer noch so fern aller Verwirklichung liegt.

Bisweilen versuchten sich auch Herrscher an einer Kirchenreform, etwa Kaiser Joseph II., der Sohn Maria Theresias. Er erließ 1781 das Toleranzpatent, das den Glauben von Protestanten und Juden legalisierte, schaffte in Österreich und Ungarn ihm nutzlos erscheinende „beschauliche“ Orden ebenso wie zu viele Kerzen in Kirchen und zu viel Pompfüneberer-Prunk bei Begräbnissen ab. Er schuf neue Pfarrstrukturen, reformierte Zivil- und Strafrecht. Ja, und für die Wiener Heurigen ließ er eine rechtliche Grundlage ausarbeiten. Hinter all diesen Reformen stand sein Weltbild, das von der „Aufklärung“ bestimmt war und der Vernunft auch in Kirche und Staat zum Durchbruch verhelfen sollte. Aber Reformen, gar wenn sie an Revolutionen streifen, sind in Österreich nur bedingt beliebt. Viele murrten. Die katholische Kirche fletschte die Zähne.

Aufklärung

Die Aufklärung war eine Chance für jede Institution, sich selbstkritisch zu hinterfragen und zukunftstauglich zu werden. Für eine von einer Allianz zwischen Thron und Altar abhängigen Kirche wurde sie zum Schreckgespenst, das es abzuwehren galt. Über die Mittel verfügte vor allem der Papst, der sich von allerlei Schwächeperioden der Geschichte erholt hatte. 1869 berief Pius IX. das Erste Vatikanische Konzil ein, auf dessen Tagesordnung er das Unfehlbarkeitsdogma setzte. Der Papst sollte unter bestimmten Formvoraussetzungen in Glaubens- und Sittenlehren, aber auch in der Disziplinarhoheit über alle Bischöfe der Welt das letzte Wort haben.

Als es zur Abstimmung kam, war ein Drittel der Bischöfe mit allen möglichen Begründungen schon heimgereist, darunter auch der Unfehlbarkeitsgegner Kardinal Joseph Othmar Rauscher aus Wien. Die 533 am 18. Juli 1870 mit Ja stimmenden Kardinäle vertraten nicht mehr als 44 Prozent der damals lebenden 180 Millionen Katholikinnen und Katholiken der Erde. Die erste Folge war die Abspaltung der Altkatholischen Kirche, eine zweite der Einmarsch italienischer Truppen in den Kirchenstaat und die Vertagung des Konzils „sine die“ (ohne neuen Termin). Der Termin kam am 11. Oktober 1962, als das Zweite Vatikanische Konzil zusammentrat, um der katholischen Kirche ein „heutiges“ Gesicht zu verleihen.

In diesem Februar ist Petrus-Nachfolger Benedikt XVI. auch mit der Quo-vadis-Frage seinem Herrn begegnet. Dieser hat ihn nicht in sein Amt zurückgeschickt.

Vom Prediger zur Großmacht

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