Sterbehilfe: "Tötung nicht romantisieren"
KURIER: Herr Prof. Boer, in Ihrem Heimatland, den Niederlanden, ist aktive Sterbehilfe seit 2001 erlaubt. In Österreich hat der VfGH erkannt, dass die Mitwirkung am Suizid nicht prinzipiell verboten werden darf – und damit eine heftige Debatte ausgelöst. Wie nehmen Sie diese wahr?
Theo Boer: Die österreichische Diskussion bereitet mir gleichermaßen Sorge, wie sie mir auch Bewunderung abringt. Der entscheidende Punkt ist, dass in den Niederlanden der Arzt eine zentrale Rolle hat.
Der Arzt entscheidet darüber, ob das Leiden eines Menschen – und damit sein Leben – beendet wird. Das hat zu den hohen Zahlen an Fällen von aktiver Sterbehilfe beigetragen. In Oregon etwa haben wir nur ein Zehntel der Fälle. Wenn der Arzt eine zentrale Rolle hat, dann ist der „Bedarf“ viel größer, weil das „Angebot“ viel größer ist. In Österreich ist der Fokus auf der Autonomie des Individuums, und das halte ich für besser. Ich würde es begrüßen, wenn man sagt: der Arzt macht das nicht, der Patient selber ist verantwortlich. In den Niederlanden ist die aktive Sterbehilfe ein Teil des Gesundheitssystems geworden. Es gibt Bezirke in den Städten, wo 15 bis 20 Prozent aller Sterbefälle auf aktive Sterbehilfe zurückgehen. Ich verstehe die Tragik des selbstgewählten Todes – aber wir sollten diese Tragik nicht organisieren.
Kann es für dieses heikle Thema überhaupt eine gesetzliche Regelung geben, welche dem VfGH-Erkenntnis Rechnung trägt, aber den befürchteten „Dammbruch“ verhindert?
Ein Land kann es seinen Bürgern nicht verbieten, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Aber wenn man beispielsweise sagt, es steht Muslimen frei, nach Mekka zu pilgern, dann heißt das nicht, dass ein Land die Verpflichtung hat, die Reise zu bezahlen und den Flug zu organisieren. Man soll im Gesetz verankern, dass es sich hier um ein Freiheitsrecht handelt, aber um Gottes Willen nicht eine Verantwortlichkeit des Gesundheitswesens. Lassen Sie die Ärzte soweit wie möglich draußen – damit diese Krankheiten behandeln, Symptome lindern können und nicht auch noch für die Tötung ihrer Patienten zuständig sind.
Aber wenn Mitwirkung am Suizid erlaubt ist, muss sie ja auch Ärzten erlaubt sein, oder?
In Oregon ist die Rolle des Arztes auf eine medizinische Begutachtung beschränkt: ob der Patient krank ist, ob er nur noch eine kurze Lebenszeit vor sich hat und ob er fähig zu einer freien Entscheidung ist. Mehr nicht. In den Niederlanden beurteilt der Arzt aber auch das Leiden des Patienten: im einen Fall sagt er, er leidet genug, im anderen, er leidet nicht genug. Das ist letztlich ein Paternalismus, der mit der Autonomie des Patienten nicht vereinbar ist.
Stichwort Autonomie: Das ist ja einer der zentralen Begriffe in der Argumentation einer Liberalisierung der Sterbehilfe. Autonomie muss auch bedeuten, über das Ende des eigenen Lebens bestimmen zu können. Was setzen Sie dem entgegen?
Ich würde dem nicht viel entgegensetzen. Aber ich würde sagen: Wer A sagt, soll auch B sagen. Wer die Autonomie betont, muss auch selber die Verantwortung für die Beendigung des Lebens tragen. Es ist ein Märchen, dass ein frei gewählter Tod immer gewaltsam ist, wenn er nicht vom Arzt herbeigeführt wird. Es gibt viele Möglichkeiten, sich selbst auf humane Weise ein Ende zu setzen – in den Niederlanden ist das allerdings strengstens verboten: Beihilfe zum Suizid ist Ärzten vorbehalten. Ich wünsche mir, dass das in Österreich anders kommt.
Das Argument für die Beihilfe lautet ja, dass jemand, der sich seinen Wunsch zu sterben nicht mehr selbst erfüllen kann, Hilfe bekommen soll, ohne dass sich diese Person strafbar macht …
Das halte ich für ein gutes Argument. Ich würde nur ergänzen: Wenn ich um jeden Preis verhindern will, dass ich abhängig von fremder Hilfe werde, dann führt das dazu, dass ich „rechtzeitig“ mein Leben beende – also nicht 5 vor 12 sondern Viertel vor 12. Man muss auch bedenken, dass die Diskussion um Sterbehilfe zu einer Zeit entstand, in den achtziger Jahren, als etliche Menschen unter entsetzlichen Schmerzen, schreiend oder erstickend sterben mussten. Mittlerweile ist die Palliativmedizin so weit fortgeschritten, dass es das kaum noch gibt. Es ist heute Sterbehilfe nur noch sehr selten nötig, um dieses Leiden zu vermeiden. Worum es geht, ist die Vorstellung des machbaren Todes: Ich will der Herr meines Todes sein, wie ich auch sonst mein Beziehungsleben, meinen Beruf etc. in Eigenregie führe.
Was lässt sich dagegen sagen?
Man kann das ja wollen. Aber es ist ein Freiheitsrecht, nicht etwas, das man vom Arzt oder von der Gesellschaft einfordern kann. Tötung soll nicht romantisiert werden. Es ist und bleibt eine tragische Entscheidung zu sagen: obwohl ich noch weiterleben kann, will ich meiner Existenz ein Ende setzen. Das ist eine persönliche Sache, die persönlich bleiben soll.
Aber wenn ich Sie richtig verstehe, halten Sie das VfGH-Erkenntnis nicht prinzipiell für problematisch …
Ich verstehe es insofern, als es in der Gesellschaft eine große Zustimmung zum selbstgewählten Lebensende gibt. Andererseits zweifle ich sehr daran, dass das Sterben durch eine Neuregelung menschlicher, die Gesellschaft dadurch humaner wird. Letztlich sehe ich in der Entwicklung auch ein Versagen, mit Verletzlichkeit und Abhängigkeit umzugehen. Je mehr das Platz greift, umso schwieriger wird es, mit Alter und Niedergang sich abzufinden. Jede einzelne Entscheidung hat in diesem Sinne auch gesamtgesellschaftliche Effekte – eine individuelle Entscheidung ist nie nur individuell.
Der Anwalt, der die Antragsteller beim VfGH vertreten hat, hat in einem Interview gesagt: „Es gibt weltweit keinen Nachweis, dass in einem Land mit liberaleren Bestimmungen Missbrauch in einem relevanten Ausmaß aufgetreten wäre.“ Hat er da recht?
Das hängt davon ab, was man unter „Missbrauch“ versteht. Wenn man damit meint, dass Menschen gegen ihren Willen getötet werden, dann gibt es etwa in den Niederlanden kaum Missbrauch. Was ich aber auch tragisch finde, ist, dass sich die Überzeugung durchsetzt, dass das einzig würdige Sterben jenes ist, das man selbst in Gang gesetzt hat. Die Verfügbarkeit der aktiven Sterbehilfe verändert unseren Blick auf Leben und Tod. Das ist kein Missbrauch, aber es sind Auswirkungen, die man anfangs nicht vorhergesehen hat.
Was folgern Sie politisch daraus?
Dass die Beihilfe zum Suizid respektiert wird – das sage ich als Demokrat – aber dass sie nicht präsentiert wird als eine Option für humanes Sterben. Denn für ein humanes Sterben ist Sterbehilfe anno 2021 nicht mehr nötig.
Dennoch befürchten viele, dass, wenn man die Türe einen Spalt weit öffnet, sie am Ende ganz weit offen stehen wird, der viel zitierte slippery slope-Effekt …
Das ist auch so. Ich kenne kein Land, wo nicht eine Liberalisierung eine weitere nach sich gezogen hätte. Kanada ist ein bekanntes Beispiel: Dort hat man 2016 Sterbehilfe legalisiert – aber nur für Patienten, die nicht mehr länger als sechs Monate zu leben hatten. Die Tinte dieses Gesetzes war noch nicht trocken, als das erste Gerichtsverfahren gestartet wurde, weil eine Person mit einer viel längeren Lebenserwartung dagegen wegen Diskriminierung geklagt hatte. Und sie bekam letztlich recht. Der nächste Schritt in Kanada ist jetzt die Ausweitung auf Menschen mit psychischen Krankheiten.
Traditionell war das stärkste Argument gegen Sterbehilfe ein religiöses: die Unverfügbarkeit des Lebens. Hat eine säkulare Ethik ähnlich starke Argumente?
Die Polarisierung zwischen antireligiösen Liberalisierungsbefürwortern und religiösen Kritikern halte ich für unfruchtbar. Mein englischer Kollege Kevin L. Yuill, ein Atheist, hat ein Buch gegen assistierten Suizid geschrieben. Er sagt, es sei gefährlich, dass wir es uns erlauben, von anderen getötet zu werden oder bei der Selbsttötung Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine Gesellschaft hat seiner Ansicht nach die Aufgabe, das Leben zu schützen. Umgekehrt war es in den Niederlanden die Religiösen, meine reformierte Kirche, die sich – unter dem Verweis auf gebotene Barmherzigkeit – als Erste für die aktive Sterbehilfe ausgesprochen haben.
Kommentare