Historiker Thießen: "Nicht Virus ist das Problem, wir sind es"
Wer würde sich nicht wünschen, dass Corona längst Geschichte ist? Malte Thießen hat das wörtlich genommen und „Eine Gesellschaftsgeschichte der Pandemie“ (so der Untertitel seines neuen Buches Auf Abstand) geschrieben. Dabei rückt der deutsche Historiker nicht das Virus, sondern die Menschen in den Mittelpunkt.
KURIER: Sie nennen Corona die sozialste aller Krankheiten. Warum?
Malte Thießen: Seuchen rühren immer sofort an die Grundsätze von Gesellschaften. Andere Leiden wie Krebs sind für den Einzelnen genauso schlimm, doch im Pandemie-Fall ist die Krankheit immer auch eine Bedrohung für andere, weil sie übertragen wird. Klingt banal, ist aber der Grund, warum wir sofort um soziale Normen streiten und Sündenböcke suchen, denn die Ausbreitung hängt davon ab, ob wir verantwortungsvoll sind oder nur an uns denken.
Das passt zu den aktuellen Entwicklungen in Österreich. Der Lockdown für Ungeimpfte war eine Weltpremiere. Wie schätzt der Historiker das ein?
Ich bin da zwiegespalten und genervt. Ich kann den Wunsch nach Planbarkeit von Gesundheit nachvollziehen. Aus historischer Perspektive habe ich große Zweifel, ob das was bringt oder man damit nur neue Gefahren heraufbeschwört.
Heißt was?
Jemand, der sich partout nicht impfen lassen will, findet immer einen Weg und sei es mit falschen Zeugnissen oder Impfpassfälschungen. Als die Pocken-Impfpflicht eingeführt wurde, florierte auch der Handel mit gefälschten Impfzeugnissen. In Folge dieses Phänomens könnte heute die Gefahr versteckter Infektionsherde steigen. Das Risiko für alle wird größer.
Malte Thießen
Der Historiker (Jahrgang 1974) promovierte in Hamburg, war Juniorprofessor an der Universität Oldenburg und arbeitete am German Historical Institute London. 2015 wurde er mit einer Arbeit zur Geschichte des Impfens habilitiert. Sein neues Buch ist im Campus-Verlag erschienen: Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Menschen im 21. Jahrhundert vergessen haben, wie gefährlich Infektionskrankheiten waren und offensichtlich noch immer sind ...
... richtig. Wir hätten alle gewarnt sein müssen, was Corona betrifft. Wir alle haben es nicht ernst genommen, weil wir Kinder unserer Zeit sind und Immunität als Sicherheitsgefühl verinnerlicht haben. Wir haben Infektionskrankheiten einfach vergessen. Impfungen sind also Opfer ihrer eigenen Erfolge. Dass es Impfdurchbrüche gibt, war früher viel präsenter: Bei Diphtherie und Kinderlähmung war den Leuten klar, dass sie weiter ansteckend sein können und nicht jede Impfung hilft. Dieses Gefühl, dass Impfung keine absolute, sondern nur relative Sicherheit bietet, haben wir verloren.
Wurde nicht auch die Heilswirkung der Impfung viel zu hoch gehängt?
Genau! Lange, ehe es die Impfung gab, propagierte man das totale Sicherheitsversprechen: Impfungen bringen das Ende der Pandemie! Jetzt dämmert den meisten: Das Heilsversprechen der Impfung greift zu kurz, wir müssen weiterhin mit Tests und Abstandsbeschränkungen leben. Das bedeutet Kränkung und Kontrollverlust.
Ist es zu früh für ein erstes Fazit aus der Pandemie, gibt es Lehren?
Durchaus: Wir müssen Immunität global denken. Wenn wir das nicht schaffen, werden Pandemien immer wieder zurückkommen und gefährlicher werden. Das ist bei Corona besonders fatal, weil das Virus viel schneller mutiert als etwa die Pocken. Die Lehre für mich: Wenn alle geschützt sind, sind auch wir geschützt. Auch, dass man Kritik und Vorbehalte ernst nehmen muss, gehört dazu. Maßnahmen-Kritik wurde ja schnell ins rechte Eck gerückt, wobei es ganz unterschiedliche Motive gibt. Viele Menschen könnte man abholen und gewinnen, wenn man ihre persönlichen Sorgen ernst nimmt.
Die neueste Erkenntnis aber ist die, dass wir heute ein ganz anderes Risikoempfinden besitzen und in Corona-Zeiten das Pendel erstmals zugunsten der Gesundheit ausschlug und nicht für die Wirtschaft. Im Vergleich zu früher sind wir heute bereit, wirtschaftliche Einbußen in Kauf zu nehmen, um die Gesundheit auch von Schwachen zu schützen. Noch Ende der 1960er, als die Hongkong-Grippe umging, nahm man den Kollateralschaden – so nannte man das – in Kauf. Eine Pressemeldung des Bundesgesundheitsamts beruhigte damals: Man müsse sich keine Sorgen machen – ernsthaft betroffen seien nur Alte, Kranke, Diabetiker, Asthmatiker und Schwangere. Zynisch könnte man zusammenfassen: Dass wir so große Angst vor Corona haben, ist ein Fortschritt, weil es einen neuen Umgang mit Risikogruppen signalisiert.
Was gab es außerdem noch nie zuvor?
Dass die komplette Gesellschaft im Pausenmodus ist. Und dass sie kollektiv geimpft werden soll. In der Polio-Epidemie wurden nur die Kinder geimpft; als noch Impfstoff übrig war, kamen die Jugendlichen dran. Das dauerte Jahre, teils Jahrzehnte. Dass wir nun innerhalb eines Jahres versuchen, eine gesamte Bevölkerung zu immunisieren, ist beispiellos. So sehr ich mir eine 85-%-Impfquote wünsche: Aus historischer Perspektive sind schon 70 % eigentlich eine beachtliche Leistung.
Sie sind nicht der Erste, der sagt, dass wir zur Pandemiebekämpfung nicht nur die Virologen, sondern auch Sozialwissenschafter und Psychologen brauchen. Warum?
Überspitzt formuliert, ist nicht das Virus das Problem, sondern wir Menschen sind es. Eine Pandemie versteht man nur, wenn man die Gesellschaft und jedes Verhalten versteht. Daher brauchen wir zur Bekämpfung alles Wissen, das wir auftreiben können.
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