Vor allem, weil er weiß, dass Menschen noch nie durch Zwang überzeugt wurden: „Mit dem deutschen Reichsimpfgesetz wurden 1874 Zwangsimpfungen möglich. Danach ist es tatsächlich vorgekommen, dass Polizisten in die Schule kamen und impfunwillige Kinder zum Arzt brachten, der sie zwangsimpfte.“ Bereits im 19. Jahrhundert sei die Impfpflicht aber eine unheimliche Ressourcenverschwendung gewesen.
Thießen erzählt, dass die Polizei schon damals schimpfte: „Lasst uns mit dieser Impfpflicht in Ruhe, wir haben echt Besseres zu tun, als hinter Müttern und Kindern nachzulaufen.“ Thießen: „Die Impfpflicht ist ein stumpfes Schwert“.
Kein Wunder, dass Impfungen lange Zeit Privatsache waren. 1807 änderte sich das zuerst in Bayern. 1842 folgte England und 1874 dann ganz Deutschland. „Da hält Österreich immer noch an Freiwilligkeit und Appellen fest. Erst im Zuge des ,Anschlusses‘ schwappte die Pockenimpfpflicht auch nach Österreich über“, sagt Thießen. Siehe Grafik:
Wobei Österreichs Obrigkeit mit sanftem Druck schon immer mehr erreichte – Schulplätze, Stipendien oder Militärlaufbahn gab es nur im Austausch gegen den Piks.
Feldversuch BRD - DDR
Spätestens im Kalten Krieg wurde das Impfen endgültig zum Politikum, weil es natürlich nie nur um den Stich ging. Auch nicht nur um die Gesundheit des Einzelnen, sondern um die Grundsätze der Gesellschaft, sogar um Weltbilder. Impfprogramme wurden zum Instrument des Social Engineering – man versuchte, den „Volkskörper“ zu optimieren. Und so startete Deutschland einen – unfreiwilligen – Feldversuch: „West und Ost gingen nach 1948 auch beim Impfen getrennte Wege“, erzählt Medizinhistoriker Thießen. „Der Osten verband mit dem Impfen das Prinzip des Sozialismus – planmäßig die ganze Bevölkerung verbessern.“
Bald wurde in der DDR systematisch gegen Diphtherie, Tuberkulose und Pocken zwangsgeimpft. In der Bundesrepublik waren Pflichtimpfungen hingegen weitestgehend abgeschafft worden. Die Folge: Im Osten ging die Zahl der Erkrankten rapide hinunter, während im Westen immer wieder Polioepidemien ausbrachen. Im Wettrennen um die „Volksgesundheit“ hatte die DDR die Nase vorn und bot dem Klassenfeind 1961 sogar drei Millionen Dosen Polio-Impfstoff an. Die BRD lehnte dankend ab.
Andere Ängste
Wobei sich auch in der DDR für Impfskeptiker Mittel und Wege faden. Denn: „Wenn sich jemand absolut nicht impfen lassen will, hilft keine Sanktion“, sagt Thießen. „Auch früher schon bezahlten Impfverweigerer die Strafen oder ließen sich bescheinigen, dass Vorerkrankungen das Impfen nicht zulassen.“ Die wichtige Erkenntnis aus der Geschichte ist aber: „Impfen war immer auch eine Projektionsfläche für andere Ängste und Sorgen.“ Es sei ein Test für staatliche Einrichtungen. „Ist das Vertrauen in den Staat groß, erhöht sich auch die Impfquote.“
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