Pfarrer predigen von der Kanzel über die Vorzüge des Impfens, Hebammen überzeugen schon Schwangere. Ärzte wurden mit Impf-Prämien von mehreren hundert Gulden gelockt. Und besonders Impffreudige erhielten eine lobende Erwähnung in der „Wiener Zeitung“. Außerdem sollen ans Impfen gebundene Privilegien, die Menschen motivieren: Wer zur Schule gehen wollte, musste geimpft ein, wer ein Stipendium, zum Militär oder ins Kloster wollte, ebenso.
Erster Impfzwang
Lange war das Impfen also Privatsache – europaweit. 1807 änderte sich das zuerst in Bayern. Das Königreich führte als erstes Land weltweit eine Impfpflicht gegen Pocken ein. 1853 folgte England (und schaffte sie 1907 wieder ab). Auch Frankreich handhabte seine 1857 eingeführte Pocken-Pflichtimpfungen alles andere als konsequent.
In Deutschland war man ab 1874 konsequent. Das Reichsimpfgesetz schrieb erstmals landesweit vor, dass Kinder im ersten und zwölften Lebensjahr gegen Pocken geimpft werden mussten. Und das hatte Auswirkungen auch auf Österreich. Im Gefolge des „Anschluss“ wurde hierzulande 1939 das erste und einzige Mal eine Pflichtimpfung eingeführt – gegen Pocken.
Wobei bereits in den 1930er-Jahren die Skepsis wegen des Zwangs groß war. Europa schielte damals neidvoll nach Kanada und in die USA: „Dort waren Plakate, Werbefilme sowie Radiobeiträge sehr erfolgreich und gingen mit einer hohen Impfquote einher“, erzählt der deutsche Historiker Malte Thießen.
Das kann der Impf-Auskenner sogar mit Daten nachweisen: Bei der verpflichtenden Pockenimpfung wurden Impfquoten von 60 bis 80 Prozent erreicht, während es die zeitgleich freiwillige Polioimpfung, die Anfang der 1960er-Jahre eingeführt wurde auf bis zu 98 Prozent brachte.
Geschichtliche Erkenntnisse, die für die Politik nützlich sind und in eine sachliche Debatte gehören, findet Thießen. Vor allem, weil er weiß, dass Menschen noch nie durch Zwang überzeugt wurden: „Mit dem deutschen Reichsimpfgesetz wurden 1874 Zwangsmaßnahmen möglich. So sei es vorgekommen, dass Polizisten in die Schule kamen und impfunwillige Kinder zum Arzt brachten, der sie zwangsimpfte.“ Thießen denkt, dass Impfpflicht eine unheimliche Ressourcenverschwendung ist. „Man muss sie nicht nur anordnen, sondern auch kontrollieren und sanktionieren."
Social Engineering
Spätestens im Kalten Krieg wurde das Impfen endgültig zum Politikum, weil es natürlich nie nur um den Stich ging. Auch nicht nur um die Gesundheit des Einzelnen, sondern um die Grundsätze der Gesellschaft, sogar um Weltbilder. Impfprogramme wurden zum Instrument des Social Engineering – man versuchte, den „Volkskörper“ zu optimieren. Und so startete Deutschland einen – unfreiwilligen – Feldversuch: „West und Ost gingen nach 1948 auch beim Impfen getrennte Wege“, erzählt Medizinhistoriker Thießen. „Der Osten verband mit dem Impfen das Prinzip des Sozialismus – planmäßig die ganze Bevölkerung verbessern.“
Ab 1953 griffen 31 Impfprogramme mit 17 Pflichtimpfungen bis zum 18. Lebensjahr zunehmend ins Leben der Bürger ein. In der Bundesrepublik waren Pflichtimpfungen hingegen weitestgehend abgeschafft worden. Die Folge: Im Osten ging die Zahl der Erkrankten rapide hinunter, während im Westen immer wieder Polioepidemien ausbrachen. Im Wettrennen um die „Volksgesundheit“ hatte die DDR die Nase vorn und bot dem Klassenfeind 1961 sogar drei Millionen Dosen Polio-Impfstoff an. Die BRD lehnte dankend ab.
Aus der Geschichte könne man einiges lernen, meint der Medizinhistoriker. Etwa: „Ist das Vertrauen in den Staat groß, erhöht sich auch die Impfquote. Impfen war immer auch eine Projektionsfläche für andere Ängste und Sorgen.“ Es sei ein Test für staatliche Einrichtungen.
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