Größte demografische Katastrophe
Schätzungen zufolge starben in Europa damals jedes Jahr 400.000 Menschen. Im 16. Jahrhundert haben die spanischen Eroberer die Pocken auch nach Amerika eingeschleppt. „Die einheimische Bevölkerung ist dezimiert worden – eine der größten demografischen Katastrophen überhaupt, ärger als der schwarze Tod in Europa“, weiß Medizinhistoriker Herwig Czech. „Die Pocken waren in Amerika sogar noch tödlicher.“ Etwa 50 Prozent starben.
Darum sei es auch kein Zufall, dass König Karl IV., der am Ende der kolonialen Periode stand, eine Impfkampagne finanzierte.“ Es ging um Arbeitskräfte und staatspolitisches Interesse. „Man erkannte langsam an, dass der Staat eine gewisse Verantwortung für die Gesundheit seiner Bürger hat, und dass das Wohlergehen des Staates damit verbunden ist.“
Impfen anno dazumal
Danke Edward Jenner gab es mittlerweile einen Impfstoff gegen die Pocken. „Die Impfung damals hatte aber nichts mit dem zu tun, was wir heute darunter verstehen. Im Prinzip hat man eine verwandte harmlose Krankheit, die Kuhpocken, mit Ansicht verbreitet. Und diese Krankheit hat die Betroffenen auch gegen die gefährlichen Pocken immun gemacht“, erklärt Czech.
Wie aber den Impfstoff, der seine Wirkung nach ungefähr 10 Tagen verliert, über den Atlantik bringen?
„Den Eiter konnte man zwar trocknen und mit der Post verschicken, ob er aber eine monatelange Reise nach Amerika überdauern wurde, war sehr fraglich“, weiß Czech.
Francisco Javier de Balmis, Arzt am Hof von König Karl IV., schlug also vor, den Kindern den Lebendimpfstoff zu spritzen und ihn während der Seereise sukzessive zu übertragen, um die Impfung immer aktiv zu halten, als menschliche Kette sozusagen. Medizinhistoriker Czech nennt es einen „riskanter Plan, von Unsicherheiten geprägt“.
Immer einer krank
Am 30. November 1803 stach die Korvette „María Pita“ von La Coruña aus in See. An Bord waren die eingangs angesprochenen 22 Buben aus dem Findelhaus. Ausgewählt worden waren die gesündesten im Alter zwischen acht und zehn Jahren, die noch nie an Pocken erkrankt oder geimpft worden waren. Jede Woche wurde zwei Kindern der Impfstoff in den Arm gespritzt, der aus Pusteln der in der Vorwoche geimpften Kinder entnommen worden war.
„Die Reise dauerte bis zum Frühling, und in der ganzen Zeit musste immer jemand dabei sein, diese Krankheit auszubrüten, den Punkt erreichen, an dem er die Pusteln ausbildete, sodass man den Eiter auf den nächsten Buben übertragen konnte“, erzählt Czech. Ziel war es, am Ende der Reise zumindest einen Buben zu haben, von dem man den aktiven Erreger übernehmen konnte.“
Der Medizinhistoriker weiter: „Diese Vorgangsweise würde man heute natürlich nicht mehr akzeptieren. Die Buben stammten aus einem Waisenhaus, man hat ihnen das Blaue vom Himmel versprochen.“ Betreut von der Rektorin des Findelhauses, Isabel Sandalla y Gómez, haben tatsächlich alle spanischen Waisen die Reise gut überstanden und wurden von mexikanischen Familien adoptiert. 26 mexikanische Buben nahmen dann ihren Platz bei der Pazifiküberquerung ein – mit dem Versprechen, dass sie zu ihren Familien zurückkehren würden.
Glanzleistung
Als Balmis am 7. September 1806 nach Madrid zurückkehrte, hatten er und seine Mitstreiter wohl 500.000 direkte Impfungen verabreicht und in der Folge Millionen von Menschenleben gerettet. „Medizinisch war es eine Glanzleistung,“ bilanziert Czech. „Denn sie haben nicht nur geimpft, sondern versucht, Wissen zu verbreiten, Kultur mitgebracht. Örtliche Ärzte wollten überzeugt und geschult werden.“
All das wirkt nach. Als der Mexikaner Carlos Canseco 1984 die weltweite Impfkampagne zur Ausrottung der Kinderlähmung startete, sagte er: „Balmis hat mich dazu inspiriert.“
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