"Jeder ist einmal psychisch krank"

Leidende Volksseele: Depression
Experten halten die Trennung von Psyche und Körper für virtuell.

Alles begann damit, dass ein enger Freund von Leopold K., 40, im Aufzug stecken geblieben ist. Bei Leopold löste das Höhenangst aus, er bekam immer größere Angst, in einen Lift einzusteigen, später sogar Angst, an hohen Gebäuden vorbeizufahren und vorbeizugehen.

„Und dann kam die Angst vor den sozialen Folgen – Unverständnis, Stigma, Ehekrise – und den finanziellen wie Jobverlust hinzu. Aus einer kleinen Sache entwickelte sich eine existenzbedrohende Krankheit“, erzählte Prim. Georg Psota, Chefarzt der Psychosozialen Dienste Wiens (PSD), Mittwochabend beim „Lundbeck Presseforum Psychiatrie“ in Wien. Leopolds Geschichte ist kein Einzelfall: Je nach Studie leiden 14 bis 25 Prozent der Bevölkerung an Angsterkrankungen. Rechnet man die Zahlen aller akut von psychischen Erkrankungen Betroffenen zusammen, ergibt das zumindest ein Drittel der Bevölkerung.

Die durch psychische Leiden (etwa Angststörungen, Depressionen oder Suchterkrankungen) verursachte „Krankheitslast“ – das sind u. a. die mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen verbundenen Lebensjahre – wird laut Weltgesundheitsorganisation WHO deutlich ansteigen:

Weltweit werden Depressionen bis 2030 bei der Krankheitslast bereits an zweiter Stelle liegen (siehe Grafik unten).

In den Industriestaaten werden depressive Erkrankungen bereits 2015 die Spitze erreichen und Herzkrankheiten auf Platz 2 verdrängen. Ein Grund für diesen Anstieg: „Durch die steigende Lebenserwartung leben vielen Menschen heute mit diesen Erkrankungen länger“, sagte Univ.-Prof. Gabriele Sachs, Ärztliche Direktorin der Landes-Nervenklinik Wagner-Jauregg in Linz.

„Weil die Bedeutung von psychischen Erkrankungen weltweit bis 2030 massiv zunimmt, ist es höchst an der Zeit mit der Stigmatisierung, der Ausgrenzung, aufzuhören“, betonte Psota. „Die Trennung zwischen psychisch und körperlich ist super-virtuell. Ein Mensch ist krank, mit welchen Krankheiten auch immer und benötigt Unterstützung und Hilfe.“

Zweite Erkrankung

„Man kann einem Menschen mit einer Depression nicht sagen, er soll sich zusammenreißen, dann wird es schon wieder. Das sind Vorurteile “, unterstrich auch Sachs. „ Eine derartige Stigmatisierung ist eine zweite Erkrankung.“

„Ich habe den Eindruck, „dass wir bei den psychischen Erkrankungen noch nicht ganz in der Zeit der Aufklärung angelangt sind“, sagte Psota. „Jeder Mensch erkrankt einmal in seinem Leben an Grippe oder grippalem Infekt. In diesem Ausmaß ist auch jeder Mensch einmal in seinem Leben psychisch krank.“

Heftig kritisiert Psota Schlagzeilen von Boulevardmedien wie „Irrer Machthaber“, wenn es um Diktatoren oder Despoten von „Schurkenstaaten“ geht: „Alle großen Potentaten waren nicht im engeren Sinn psychisch krank.“ Hingegen habe es viele sehr berühmte Menschen mit psychischen Erkrankungen gegeben: „US-Präsident Abraham Lincoln – ohne ihn gäbe es keine Menschenrechte – war schwer depressiv, Winston Churchill hat in seinen depressiven Phasen (bipolare Depression –manisch-depressiv, Anm.) geglaubt, er sei der schlechteste Premier, den Großbritannien je hatte.“

„Psychische Erkrankungen gehören in Europa zu den am häufigsten auftretenden Diagnosen“, betonte Sozialmediziner Univ.-Prof. Bernhard Schwarz, MedUni Wien. Das habe auch wirtschaftliche Folgen: „Psychiatrische Leiden sind ein wesentlicher Grund für Invaliditätspensionen.“ Psota: „Bei Alzheimer habe ich den Eindruck, dass die Erkrankung zunehmend als etwas gesehen wird, was es einfach im Leben geben kann. Dieses Verständnis benötigen wir bei den anderen Erkrankungen auch.“

"Jeder ist einmal psychisch krank"

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