Lange Nase, kurze Beine: Warum Lügen zutiefst menschlich ist
„Mir verschlug es die Sprache, als ich erfahren musste: Die Menschen lügen. Alle.“ So steht es schon im Psalm 116 geschrieben. Und es stimmt. Lügen ist – selbst wenn Religion und Moralphilosophie noch so dagegen wettern – Teil unserer Kommunikation. Angeblich tun wir es sogar bis zu 200-mal am Tag, wobei niemand genau weiß, woher diese Zahl stammt.
„Unehrlichkeit ist derzeit medial äußerst präsent. In Deutschland etwa durch den VW-Abgasskandal, in den USA durch die Präsidentschaft von Donald Trump“, sagt Philipp Gerlach vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Mitautor der Metastudie „The truth about lies“. „Eine Beraterin von Trump, Kellyanne Conway, rechtfertigte etwa Falschaussagen des White House als ‚alternative Fakten‘. Dies zeigt eine beunruhigende Tendenz, dass die Wahrheit als bloße Meinung abgetan wird.“
Verschwindet die Drohung, die Reputation zu verlieren, kann es dazu kommen, dass Menschen eher bereit sind zu lügen. Es fällt uns daher leichter, über das anonyme Internet zu lügen als von Angesucht zu Angesucht.
Kitt der Gesellschaft
Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit gelten als Tugend, Täuschen und Flunkern hingegen ist verpönt. Warum der Mensch dennoch lügt, damit beschäftigen sich Psychologen und Philosophen seit Jahrhunderten. „Die Entwicklung der Sprache ermöglicht uns, Informationen effizient und im großen Ausmaß zu teilen. Dennoch birgt Sprache auch das Risiko, dass jemand die Unwahrheit sagt“, sagt Philipp Gerlach. „Es gibt eine interessante Theorie, die besagt, dass Menschen deswegen so intelligent geworden sind, weil es zu einem Wettlauf zwischen Lügen und Lügenerkennen kam.“
Andere Wissenschaftler verfolgen den Ansatz, dass ein soziales Miteinander nur funktioniert, wenn es auch erlaubt ist, die Wahrheit zu verfälschen. So untersuchte ein Team von Psychologen der Nottingham Trent University, ob Lügen das Zusammenleben verbessern können, indem sie das Social-Media-Verhalten von Studenten analysierten.
Es kristallisierten sich drei Nutzergruppen heraus: die Selbstdarsteller, die Hochinteraktiven und die Mitteilenden, die nur private Nachrichten austauschen. Eines gleich vorweg: Alle drei flunkerten oder verdrehten die Wahrheit – aber die dritte Gruppe, die mit Freunden via Social Media kommuniziert, tut es allein aus dem Grund, die Beziehungen aufrechtzuerhalten. Die anderen User wollen sich mit Schummeleien in ein besseres Licht rücken. Die Forscher leiten aus dem Ergebnis ab, dass es sozusagen auch gute Lügen gibt – nämlich dann, wenn sie als sozialer Kitt funktionieren.
Weibliche Ehrlichkeit
Bei der Metastudie „The truth about lies“ zeigte sich auch ein geschlechterspezifisches Verhalten. „Im Schnitt haben Männer mehr gelogen als Frauen. Der Unterschied war nicht wahnsinnig groß, aber er war recht eindeutig“, bestätigt Philipp Gerlach. „Warum, ist unklar. Eine Erklärung ist: Wer lügt, geht immer auch das Risiko ein, dabei erwischt zu werden. Es gibt Studien, die zeigen, dass Männer risikobereiter sind als Frauen.“
Auch die Theorie, dass Frauen Unehrlichkeit vor allem dann scheuen, wenn andere darunter leiden könnten, wird häufig vertreten. Ebenfalls zeigte sich bei der Studie, dass jüngere Personen eher bereit sind, die Wahrheit zu verdrehen. Auch hier können nur Vermutungen über den Grund aufgestellt werden. „Ältere Menschen achten tendenziell mehr darauf, dass gesellschaftliche Regeln eingehalten werden“, versucht Philipp Gerlach eine Erklärung. „Genauso kann es aber ein Generationseffekt sein. Die jüngere Generation wird ja derzeit in einer Welt ‚alternativer Fakten‘ groß. Vielleicht färbt das ab.“
Nicht von Kindesbeinen an
Apropos jüngere Generation: Lügen will gelernt sein. „Ab etwa vier Jahren fangen Kinder an, flexibel zu lügen. Zuvor sagen sie auch oft Falsches, das den Hörer irreführt“, erklärt Josef Perner, Professor für Psychologie an der Universität Salzburg. „Wie Tests zeigen, unterscheiden sie aber erst dann zwischen Lügen – also etwas sagen, von dem man weiß, dass es falsch ist – und Irrtum – etwas Falsches sagen, von dem man glaubt, es wäre wahr.“
Auch Spaß, Sarkasmus oder Ironie sind Falschaussagen. Aber nur bei der Lüge ist beabsichtig, dass es der Hörer auch glaubt.
So moralisch verwerflich das Flunkern auch gesehen wird, setzt es doch eine enorme kognitive Leistung voraus. Der Lügende muss sich schließlich eine Geschichte überlegen, die plausibel klingt, und diese auch weiterspinnen können. Dabei darf er sich auch nicht in Widersprüche verstricken, sonst fliegt er auf. Das setzt voraus, dass Kinder verstehen, dass andere nicht unbedingt das wissen, was sie selber wissen. Das ist aber essenziell, um eine Information weitergeben zu können, die sich vom eigenen Verständnis und Wissen unterscheidet.
Zudem müssen sie viele verschiedene Situationen kennenlernen, um zu erkennen, wann sich das wissentliche Verdrehen der Wahrheit auszahlt. „So um das sechste Lebensjahr unterscheiden Kinder dann auch zwischen Lüge und Witz, Spaß, Sarkasmus oder Ironie“, fasst Josef Perner die Entwicklung zusammen. „Bei all diesen Sprechakten wird etwas bewusst Falsches gesagt, aber nur in der Lüge ist beabsichtigt, dass der Hörer das auch glaubt.“
Jeder tut es
Lügen ist also etwas zutiefst Menschliches und Teil der Entwicklung. Und in den meisten Fällen geschieht es durchaus mit Kalkül. „Entweder man sagt die Wahrheit oder man entscheidet sich dagegen, um persönlich zu profitieren. Der Profit kann unterschiedlich sein, etwa in Form von Geld oder sozialer Anerkennung“, fasst Philipp Gerlach seine Untersuchung zusammen. „Kurzfristig kann es sein, dass man der Versuchung nicht widerstehen kann. Langfristig ist es aber besser, wenn man seine Reputation als ehrlicher Mensch behält.“
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