Ungeschminkte Wahrheit: Was die Mimik über uns verrät
Bei jeder sozialen Interaktion senden wir Signale aus, selbst wenn wir kein Wort gesprochen haben. Denn was sich da vor allem zwischen Stirn, Augenbrauen und Mund abspielt, ist überaus verräterisch. Die kleinen, unwillkürlichen Signale, die über das Gesicht huschen, berichten einiges über die Emotionen und Ansichten des Gesprächspartners.
In Beruf und Alltag aber werden diese nonverbalen Informationen oft nicht wahrgenommen. „Dabei haben wir das alle schon einmal gekonnt: das Lesen der Mimik“, erklärt die steirische Unternehmensberaterin Marion Lercher, die sich auf die Mimikanalyse spezialisiert hat. „Als Babys und Kleinkinder waren wir geradezu darauf angewiesen, in den Gesichtern der Eltern lesen zu können.“
Naturtalent
Intuitiv lernen Neugeborene Gesichtsausdrücke zu interpretieren und einzuordnen. So wird ein Kind mit nur vier Monaten bereits das Stirnrunzeln der Mutter als Zeichen des Ärgers deuten. Ebenso verknüpft es irgendwann das elterliche Lächeln mit Gefühlen wie Freude und Wohlgefallen. Der kleine Zwerg lernt aber nicht nur, das Gesehene zu interpretieren, sondern wird das gebotene Mimikspiel spiegeln und selbst austesten. Schon bald wird er merken, wie dienlich diese kurzen Kontraktionen der Gesichtsmuskulatur sind, um Bedürfnisse kundzutun und eine Interaktion hervorzurufen.
„Im Laufe der Schulzeit verlernt man das, der Fokus rückt immer mehr auf das gesprochene und geschriebene Wort“, so die Unternehmensberaterin. Hinzu käme die allgemein stark gestiegene Beschäftigung mit Computern, Tablets und Smartphones: „Für mich sind das schwarze Spiegel, in die wir tagtäglich und häufig reinsehen und die uns davon abhalten, in den Gesichtern eines Gegenübers zu lesen. Verlasse ich mich nur auf Worte, dann ist das immer nur ein Bruchteil der Informationen, die mir jemand weitergeben möchte.“
Seit knapp 25 Jahren stehen Marion und Andreas Lercher österreichweit Unternehmen beratend zur Seite und bieten Coachings und Seminare im Bereich Service- und Kundenorientierung an. Stark zu tragen kommt dabei die sogenannte Mimikresonanz als Schlüsselfähigkeit für den beruflichen Erfolg.
Schneller als ein Lidschlag
Eindeutige Gefühle zu erkennen, fällt nicht schwer: Die Mimik für Ärger, Angst, Überraschung, Ekel, Verachtung, Freude und Trauer ist kulturübergreifend ident und kann von jedem unabhängig von Sozialisation und Herkunft entschlüsselt werden. Sie zählen zu den sieben Primäremotionen, die rein mit dem Gesicht dargestellt werden können. Was die Sache knifflig macht: Viel öfter stehen uns unsere Gefühle nicht so klar und anhaltend ins Gesicht geschrieben.
Stattdessen treten sie in Form von Mikroexpressionen auf, die vom limbischen System, dem „Emotionsgehirn“, wie Lercher es beschreibt, ausgelöst werden: „Damit sind sie nicht bewusst steuerbar.“ Mit einer Dauer von durchschnittlich 100 Millisekunden sind sie blitzschnell. Die Expertin vergleicht es mit einem Wimpernschlag: Dieser dauere mit rund 250 bis 350 Millisekunden fast dreimal so lang. Die Mimikresonanz – ein Konzept, das von dem Coach und Körpersprache-Experten Dirk W. Eilert im Jahr 2011 entwickelt wurde – zielt darauf ab, Mikroexpressionen zu erkennen und mit den gewonnenen Informationen angemessen umzugehen.
Wenn ich weiß, worauf ich achten muss, erkenne ich, wie meine Worte ankommen.
Wobei das keine Einbahnstraße ist: „Einer der zentralen Punkte der Mimikresonanz ist die Auseinandersetzung damit, wie ich selbst mit meiner Aussage auf mein Gegenüber, egal ob Kunde, Mitarbeiter, Kollege oder Familienmitglied, wirke“, so Lercher. „Weiß ich, worauf ich achten muss, erkenne ich, wie meine Worte ankommen.“ Ein Wissen, dass dann eben nicht nur die Empathiefähigkeit fördert, sondern auch die eigene Wirkungskompetenz.
„Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass es kaum bekannt ist, wie häufig unausgesprochene Einwände in einem Gespräch auftreten“, nennt die Trainerin ein Beispiel. „Die Mimikresonanz identifiziert insgesamt sieben Einwandsignale. Blitzt eines davon auf, weiß ich, dass ich reagieren muss.“
So signalisiert das blitzartige Zusammenziehen der Augenbrauen möglicherweise, dass eine Erklärung nicht so schlüssig angekommen ist wie beabsichtigt. „Noch bevor es die Person ausgesprochen hat und manchmal, bevor es ihr selbst bewusst ist, sehe ich an der Mimik, ob eine Irritation vorliegt. Ich kann dann mehr Hintergrundinformationen bereitstellen oder direkt auffordern, Fragen zu stellen. Dieses Reagierenkönnen ist von unschätzbarem Wert, ob in einem Meeting, bei einer Präsentation oder bei Gehaltsverhandlungen.“
Spiegel der Seele
„Mikroexpressionen sind, wie gesagt, emotional und treten unwillentlich auf“, erklärt die Trainerin. „Damit kommt es zu einer Abweichung von der sogenannten Baseline, des ’Normalaussehens’.“ Wird man etwa als Jobsuchender in einer Bewerbungssituation mit einer unerwarteten Frage konfrontiert, wird man die Überraschung oder Unsicherheit zumindest im Millisekunden-Bereich nicht verbergen können. Dieses Kalt-Erwischen mit einer überraschenden Frage ist letztlich auch ein gut bewährtes Mittel im Journalismus, um rhetorisch geschulte Politiker, die ihre Botschaft unterbringen wollen, zu verunsichern.
„Bekomme ich eine Frage, auf die ich mich nicht vorbereitet und die ich nicht einstudiert habe, wird der zumindest momentane Verlust an Souveränität in Mikroexpressionen erkennbar sein“, so Lercher, die gerade an Wahlabenden besonders gerne in die Gesichter der involvierten Parteien blickt. Denn mit einer gut einstudierten Körpersprache und einer starken Stimme lasse sich der Schein gut wahren, aber „die Mikromimik erzählt etwas anderes“.
Auch wenn sie eigentlich Fröhlichkeit verbreiten wollen, lösen manche Clowns dabei ein gewisses Unbehagen aus. Die Ursache liegt oft an der maskenhaften Schminke, unter der ein Großteil des echten Mienenspiels verschwindet. Die durch die Schminke hervorgehobenen Gesichtszüge wiederum sind zwar klar interpretierbar, aber wirken zugleich künstlich, wenn nicht gar manipulativ. Das bereitet Kindern – und so manchem Erwachsenen – Unbehagen. Film und Fernsehen nutzen gerne diese Ambivalenz, um Spannung zu erzeugen. Berühmt-berüchtigt: Clown Pennywise aus Stephen Kings Roman "Es". Vor Kurzem kehrte die Schreckensgestalt in einer Neuverfilmung in die Kinos zurück. Dort flimmert derzeit auch Schauspieler Joaquin Phoenix als "Joker" über die Leinwand.
Die gefühlte Ambivalenz, den diese und ähnliche Film- und TV-Figuren auslösen, steht auch in Verbindung mit dem Phänomen des „Uncanny Valley“ – zu Deutsch „Unheimliches Tal“. Der Begriff kommt aus der Roboterforschung und bezieht sich hier auf die Entwicklung von Robotern mit humanoidem Aussehen. Besonders Asien treibt diese voran, damit etwa Roboter, die als Sexpartner, aber auch in der Alterspflege eingesetzt werden sollen, auf eine höhere Akzeptanz stoßen. Doch so real sie wirken, gerade die feinen, schnellen Regungen der Mimik lassen sich nicht so einfach nachahmen. Um zur Populärkultur zurückzukehren: Gleiches passiert, wenn etwa in „Star Wars: Rogue One“ die plötzlich wieder junge Prinzessin Leia auftritt. Für die Szene wurde sie am Computer generiert – aber bei aller Animationskunst fühlt man: Irgendetwas in ihrem Gesicht ist nicht echt, irgendetwas ist unheimlich.
Die Krux an der Sache: „Die Veränderung im Ausdruck kann mit der stattfindenden Interaktion zusammenhängen. Es kann aber auch sein, dass dem Gegenüber nur gerade etwas ganz anderes eingefallen ist.“ Etwa dass das Handy zuhause vergessen wurde oder dass man noch zum Supermarkt muss, da die Milch am Morgen alle war. Als aufmerksamer Gesprächspartner, der die Mimik im Auge behält, tut man daher gut daran, abzuwarten, was danach passiert: „Als Sprechende ist es für mich wichtig, zu sehen, ob das Signal wieder kommt und wenn ja, ob es bleibt oder sich von alleine auflöst, da vielleicht nur eine momentane Irritation vorlag und das Gegenüber wieder mit dem Gesprächsverlauf einverstanden ist.“
Die Kunst ist wahrzunehmen, ohne gleich zu interpretieren. Wer aber dann die Zeichen richtig deutet und entsprechend reagiert, kann den Gesprächspartner wieder zurückholen, im Idealfall löst er bei ihm sogar ein innerliches Nicken aus – und das, ohne jemals ein Wort über die Irritation verloren zu haben. Das Zustimmungssignal huscht dann ebenso über das Gesicht wie zuvor der Einwand. „Erkennt man derartige Regungen und greift diese auf, geht man mit der betroffenen Person in Einklang, in Resonanz“, so Lercher und führt wieder ein Beispiel an: Ein Kunde, der sich gerade aufregt, will in seiner Aufregung auch anerkannt werden. Wird diese ignoriert oder als unnötig abgetan, wird das nicht zur Beruhigung beitragen, im Gegenteil. „Wenn ich aber sehe, was er gerade fühlt und das annehme, wird das Gespräch einen besseren Verlauf nehmen.“
Das Lesen der Mimik legt damit eine subtile, aber solide Basis für ein gutes Miteinander: „Wichtig ist, dass wir wieder lernen, auf die Mimik zu achten“, so Marion Lercher.
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