Wie Experten den bisherigen Verlauf der Sommerwelle einschätzen
Es war in den letzten April-Tagen: Da lagen die Infektionszahlen in Portugal und Österreich auf annähernd gleichem Niveau. Dann kam in Portugal die BA.5-Welle, die ihren Höhepunkt Anfang Juni erreicht hatte. Seither sinken die Zahlen in Portugal und steigen in Österreich – aber wie lange dauert der Anstieg noch an?
„Es ist davon auszugehen, dass die Zahlen noch ein paar Wochen steigen werden“, sagt Molekularbiologe Ulrich Elling von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften: „Im Moment sieht es wirklich nach einer sehr ausgeprägten Sommerwelle aus.“
Die gute Nachricht: „In der vergangenen Woche war der Anstieg nicht mehr ganz so stark wie davor.“ Dies hänge einerseits damit zusammen, dass die im Vergleich zu BA.2 deutlich infektiösere BA-5-Variante in Wien etwa bei bereits einem Anteil an 80 Prozent aller Neuinfektionen liege. Gleichzeitig passen viele Menschen bei steigenden Zahlen besser auf. Elling betont aber auch, dass die wahre Größe der Welle aufgrund der relativ geringen Testfrequenz „schon lange nicht mehr richtig erfassbar ist“.
Portugal mit seiner hohen Impfrate habe gezeigt, dass die – großteils länger zurückliegenden – Impfungen zwar eine BA.4/BA.5-Ansteckung nicht verhindern können, aber schwere Verläufe: So sind im Mai zehn Prozent der Ungeimpften bzw. nur einmal Geimpften Über-80-Jährigen verstorben, aber nur 1,7 Prozent der Über-80-Jährigen Dreifach- und null Prozent der Vierfachgeimpften.
Sollte die BA.5-Variante auch im Herbst dominant bleiben, könnte eine ausgeprägte Sommerwelle für den Herbst eine gewisse Entlastung bringen, sagt Elling: „Aber das ist völlig unklar, bisher ist eine Variante immer von der nächsten abgelöst worden“, erklärt Elling.
Die vergangene BA.2-Welle könnte für die BA.5-Welle einen „gewissen dämpfenden Effekt“ bringen, weil eine gewisse Kreuzimmunität besteht (mehr als im Vergleich mit BA.1): „Aber auch diese Immunität nimmt ab, und für den Herbst wird hier kein Effekt mehr zu erwarten sein, sollte BA.5 bleiben.“
Wie sich die Situation weiterentwickeln werde, sei nicht absehbar. Einen gewissen Vergleich könne man aber mit England im vergangenen Sommer ziehen: „Dort hat man letztes Jahr im Sommer versucht, die Endemie einzuläuten und die Maßnahmen ganz stark hinuntergefahren. Dann gab es im Juli eine sehr hohe Welle und danach bis in den Herbst ein konstantes Infektionsgeschehen auf relativ hohem Niveau.“
Dieses sei nicht wirklich zurückgegangen, obwohl die Durchseuchung zugenommen habe: „Andererseits ist dann im Herbst der mindernde saisonale Effekt weggefallen. Und dann kam die Omikron-Welle.“
Ein rasches Pandemieende sei jedenfalls nicht zu erwarten: „Vorangegangene Ansteckungen sind keine Garantie, sich nicht neuerlich zu infizieren – mit anderen Varianten und mit derselben Variante in einem gewissen zeitlichen Abstand.“
Die Politik setze im Moment sehr auf Eigenverantwortung. Elling: „Ich bin sehr skeptisch, ob das funktioniert. Es fährt ja auch kaum jemand mit Tempo 100 auf der Autobahn, um Sprit zu sparen, damit wir durch den Winter kommen.“
Anders sieht es der Virologe Christoph Steininger, MedUni Wien: „Natürlich sollte das Bewusstsein für Masken etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln und vollen Innenräumen sowie für Impfungen größer sein – aber hier muss die Regierung Überzeugungsarbeit leisten, damit mündige Bürger von sich aus bereit sind, öfter Masken zu tragen und sich impfen zu lassen.“ Dafür, dass die Maßnahmen zurückgefahren wurden und es eine intensive Reisetätigkeit gebe, sei die Entwicklung der Welle noch nicht so stark ausgeprägt: „Insofern bin ich doch verhalten positiv.“
Steininger ist skeptisch, ob die vorangegangene BA.2-Welle tatsächlich einen gewissen Schutz vor BA.5 bringt: „Es gibt diese Theorie, aber es fehlen uns die Daten, um das zu bestätigen. Und insgesamt sind – mit allen Varianten – nur 36 Prozent der Bevölkerung genesen. Es würde mich überraschen, wenn das – auf die Gesamtpopulation gesehen – einen durchschlagenden Effekt hätte.“
Insgesamt bedeute eine vorbestehende Immunität vor allem von Geimpften aber auf jeden Fall einen Vorteil: „Das Immunsystem reagiert rascher auf die Infektion und bekämpft es rascher – deshalb schützen ja Impfungen vor schweren Krankheitsverläufen sehr gut.“
Situation in Spitälern
In der Klinik Floridsdorf werden derzeit 40 Patientinnen und Patienten wegen einer Infektion mit Covid-19 behandelt, drei davon auf der Intensivstation. „In den vergangenen zwei Wochen hat sich die Zahl der Patientinnen und Patienten fast verdoppelt. Es ist immer noch ein mittelhoher Wert im Vergleich zur vierten Welle, zuletzt aber mit deutlich steigender Tendenz“, sagt Arschang Valipour, Leiter der Klinik für Interne Medizin und Pneumologie. Die Betroffenen seien zwischen 40 und 80 Jahre alt, ein Großteil davon hat Begleiterkrankungen und ist geimpft. „Wir sehen kaum jemanden mehr, der komplett ungeimpft ist oder der noch keine Infektion durchgemacht hat. Die dritte Impfung hat aber nur etwa jeder Zweite“, so Valipour.
Rund zwei Drittel der Patienten, die derzeit behandelt werden, ist aufgrund der Covid-Erkrankung im Spital, bei etwas weniger als einem Drittel ist die Infektion ein Nebenbefund, wird also bei der Aufnahme aus einem anderen Grund festgestellt, etwa bei einem Beinbruch. Valipour: „Bei vielen führt die Covid-Infektion zu einer Verschlechterung anderer Grunderkrankungen, etwa einer Herzinsuffizienz, Magen-Darm-Beschwerden oder chronischen Lungenerkrankungen. Die bisher übliche Lungenentzündung bei einer Covid-Infektion macht derzeit nicht die Mehrheit aus.“
Das erklärt auch den derzeit geringeren Anteil an Intensivpatientinnen und -patienten. Allerdings beobachtet der Lungenfacharzt, dass BA.4 und BA.5 eher zu Lungenbeschwerden führen als die erste Omikron-Welle. Erklärt wird dies durch zwei Mutationen, die in Laborstudien entdeckt wurden: Sie ermöglichen dem Virus ein besseres Verschmelzen mit Lungenzellen.
Vereinzelt kämen aber auch Patientinnen und Patienten zum zweiten Mal aufgrund einer Covid-Infektion ins Krankenhaus. Das betreffe vor allem Menschen, die unter das Immunsystem schwächenden Krankheiten leiden.
Optimistischer Ausblick
Valipour zeigt sich optimistisch hinsichtlich der weiteren Entwicklung. Zwar geht er davon aus, dass die Infektions- und Erkrankungszahlen weiter steigen werden. „Was uns aber hilft ist, dass wir viel mehr Medikamente zur Verfügung haben als vor einem Jahr zum Beispiel. Das sind die antiviralen Medikamente Paxlovid, Molnupiravir und Remdesivir. Zudem führt Omikron zu weniger intensivpflichtigen Fällen und ein Großteil der Menschen ist bereits immunisiert“, betont Valipour. Viele hätten eine oder mehrere Infektionen durchgemacht und seien zudem geimpft, was den Schutz vor schweren Verläufen erhöhe.
Der Experte rechnet allerdings damit, dass weiter steigende Fallzahlen den Normalbettenpflegebereich weiter sehr fordern werden. „Die Kombination aus lange ausstehenden Urlauben und Covid-bedingten Personalausfällen kann dazu führen, dass einige Stationen gesperrt werden müssen. Hier kommen große Herausforderungen auf uns zu.“ Insbesondere älteren und vulnerablen Gruppen rät der Intensivmediziner daher zur vierten Impfung.
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