Wettlauf gegen die Zeit: Was wir über die Omikron-Variante wissen
Die Ausbreitung einer neuen Variante des Coronavirus in südafrikanischen Ländern löste international große Besorgnis und Reisebeschränkungen aus. Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein rief am Freitagnachmittag alle Österreicherinnen und Österreicher auf, die in den vergangenen zehn Tagen im südlichen Afrika waren, sich bei der AGES-Hotline zu melden.
Die Variante B.1.1.529 enthält 32 Mutationen am Spike-Protein, mit denen sich der Erreger Zugang zum menschlichen Körper verschafft. Hinzu kommen über ein Dutzend Mutationen in anderen Teilen des Virus. Es ist aber nicht nur die Anzahl, sondern vor allem die Kombination der Mutationen, die Sorge bereiten, erklärt der Virologe Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Interview mit dem KURIER.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO stufte Freitagnachmittag B.1.1.529 als besorgniserregend ein und gab ihr den Namen Omikron.
Wenige Stunden zuvor hatte Belgien den ersten Fall in Europa gemeldet.
Die WHO hat für die unterschiedlichen Coronavirus-Varianten mehrere Kategorien. Eine davon ist die Kategorie "Variant of Concern", auf deutsch "besorgniserregende Variante" wie die Delta-Variante. Zu den Merkmalen kann etwa gehören, dass sie nachgewiesenermaßen die Übertragbarkeit des Coronavirus erhöht hat. "Es wird ein paar Wochen dauern, bis wir verstehen, welchen Einfluss diese Variante hat", hieß es in einer ersten Stellungnahme der WHO. Was wir bisher über die neue Variante wissen:
Wo ist die neue Variante B.1.1.529 erstmals entdeckt worden?
In der südafrikanischen Provinz Gauteng - bekannte Städte sind Pretoria und Johannesburg - ist zuletzt die Zahl der Neuinfektionen exponentiell gestiegen, die neue Variante macht 90 Prozent der entdeckten Viren aus. Allerdings ist die Gesamtzahl der entdeckten B.1.1.529-Genome relativ klein: Mit Stand Donnerstag war die neue Variiante in 77 analysierten Virusproben aus Gauteng nachweisbar, die zwischen dem 12. und 20. November gesammelt wurden. Die Analyse von Hunderten weiterer Proben ist in Arbeit.
Die Variante weist eine Spike-Mutation auf, die es ermöglicht, sie durch Genotypisierungstests (PCR-Tests) nachzuweisen, die wesentlich schneller Ergebnisse liefern als Genomsequenzierungen.
Wie ist die neue Variante entstanden?
In Südafrika gibt es die meisten Fälle, das heißt aber nicht, dass sie dort entstanden sein muss. Der erste Fall ist vom 11. November aus Botswana bekannt, drei Tage später folgte Südafrika. Expertinnen und Experten vermuten, dass die Variante in einer immungeschwächten Person entstanden sein könnte. Wenn unser Immunsystem Viren bekämpft, sie aber wegen einer Immunschwäche nicht vernichten kann, durchläuft der Erreger eine beschleunigte Evolution.
Laut dem deutschen Virologen und Politiker Karl Lauterbach deuten die vielen Mutationen der neuen Variante auf die Entstehung in HIV-Patienten hin, da Südafrika eine hohe Rate an HIV-Infektionen hat.
Welche Länder sind bisher betroffen?
Südafrika, Israel, Botswana, Hong Kong und Belgien: Mit mehr Fällen sei im Zuge der laufenden Genomanalysen zu rechnen. In Israel wurde nach offiziellen Angaben ein Reisender aus Malawi identifiziert, der sich mit der neu entdeckten Variante infiziert hat. Zwei weitere Personen seien Verdachtsfälle, die noch auf ihre Testergebnisse warten, teilte das Gesundheitsministerium mit. Sie befänden sich in Quarantäne.
Warum ist diese Variante besorgniserregend?
"Das Problem bei der Variante Variante B1.1.529 ist, dass sie mehr als 30 Mutationen am Spike-Protein aufweist, mit denen sich der Erreger Zugang zum menschlichen Körper verschafft. Zum Großteil kennen wir diese Mutationen bereits, aber hier treten sie gesammelt auf. Man kann zwar deren Effekte nicht einfach zusammenzählen, aber diese hohe Anzahl und Kombination an Mutationen löst diese internationale Besorgnis aus", erklärt Andreas Bergthaler. Virologen wie Florian Krammer spekulieren, ob die vielen Veränderungen im Spike-Protein vielleicht dazu führen, dass der Sars-CoV-2-Erreger einen anderen Weg in die Zelle nützen könnte als bisher.
Ist die Variante infektiöser?
Die Wissenschafterin Susan Hopkins vom Imperial College in London bezeichnete die neue Variante als "die besorgniserregendste, die wir je gesehen haben".
Andreas Bergthaler: "In der südafrikanischen Provinz Gauteng sind die Fälle stark angestiegen und es gibt Hinweise, dass dies mit der neuen Variante zu tun hat. Wenn man diese Zahlen zur Berechnung der Infektiosität heranzieht, dann wäre die neue Variante um vieles infektiöser als Delta. Hier stehen aber noch wichtige wissenschaftliche Untersuchungen aus für seriöse Schlußfolgerungen."
Delta und vorherige Virusmutanten brauchten mehrere Wochen, um die vorherrschende Variante zu werden. B.1.1.529 hat sich binnen 14 Tagen an die Spitze der Infektionsstatistiken katapultiert. Das bedeutet, ersten Abschätzungen zufolge könnte B.1.1.529 gegenüber der ursprünglichen Variante einen 500-prozentigen Infektionsvorteil haben, Delta hat einen 70-prozentigen. All das sind aber erst Mutmaßungen.
Reicht unser Impfschutz aus?
Mit etwas Sorge, aber ohne Panik blickt der an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York tätige österreichische Forscher Florian Krammer auf die neue Variante B.1.1.529. Derart viele Mutationen im Spike-Proteins seien "nicht gut". Es könnte sich hier um eine Variante handeln, die erstmals eine Anpassung von Impfstoffen notwendig mache. Zur Einschätzung brauche es aber noch mehr Daten: "Es ist zu früh, da etwas zu sagen."
Die derzeit verfügbaren Corona-Impfstoffe sind nach Ansicht eines britischen Experten "fast sicher" weniger effektiv gegen die im südlichen Afrika entdeckte neue Variante B.1.1.529, glaubt James Naismith, Professor für Strukturbiologie an der Universität Oxford. Auch aus Sicht des südafrikanischen Virologen Shabir Madhi schützen herkömmliche Impfstoffe gegen die neue Corona-Variante B.1.1.529 nur bedingt. "Wir gehen davon aus, dass es noch einiges an Schutz gibt." Es sei aber wahrscheinlich, dass bisherige Impfstoffe weniger wirksam sein dürften.
Ist die Variante in Österreich schon entdeckt worden?
Nein. Andreas Bergthaler: "Wir wissen also aus unseren Daten von Mitte November, dass diese Variante bis dahin in Österreich nicht aufgetreten ist. Wir sind deutlich besser aufgestellt als vor einem Jahr und das Überwachungssystem wird von der AGES gerade noch deutlich ausgebaut. Wenn Österreich jedoch wie im Juni bei Delta nahezu überrollt werden sollte, dann kann ich jetzt jedem nur dringend zu einer Erstimpfung bzw. der Auffrischungsimpfung raten."
Welche Vorteile haben Reisebeschränkungen aus Südafrika?
Andreas Bergthaler: "Es geht immer um den Faktor Zeit in einer Pandemie. Je früher man agiert, desto besser. Wir müssen uns die Frage stellen, wie sehr wir hinterherhinken mit der Identifizierung von B1.1.529 weltweit. In diesem Fall haben ganz wenige Sequenzierungen gereicht, um hellhörig zu werden aufgrund der ungewöhnlichen Anzahl and Art von Mutationen der Variante. Politisch gesehen führt kein anderer Weg vorbei als möglichst rasch Maßnahmen zu implementieren. Damit können wir die Verbreitung der Variante aber wahrscheinlich maximal verlangsamen, wenn sie denn wirklich infektiöser ist als Delta ist."
Welche Untersuchungen folgen jetzt?
Forscher in Südafrika haben bereits mit Labortests gestartet: Sie planen, die Fähigkeit der Variante zu testen, Antikörper sowie andere Immunreaktionen zu umgehen. Die Computermodellierung deutet darauf hin, dass B.1.1.529 die verliehene Immunität durch T-Zellen umgehen könnte. Das Team rund um Penny Moore, Virologin der University of Witwatersrand in Johannesburg, hofft, in zwei Wochen die ersten Ergebnisse vorlegen zu können.
Wie schnell kann Biontech einen neuen Impfstoff entwickeln, falls notwendig?
Das Pharmaunternehmen Biontech prüft eine mögliche Anpassung seines mRNA-Impfstoffs: "Wir können die Besorgnis von Experten nachvollziehen und haben unverzüglich Untersuchungen zur Variante B.1.1.529 eingeleitet", sagte ein Biontech-Sprecher am Freitag. Biontech hat für einen solchen Fall nach eigenen Angaben schon vor Monaten mit seinem US-Partner Pfizer Vorbereitungen getroffen. Der mRNA-Impfstoff soll dann innerhalb von sechs Wochen angepasst werden. Erste Chargen des angepassten Impfstoffs könnten nach Angaben des Unternehmens innerhalb von 100 Tagen ausgeliefert werden.
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