Sonntag, den 8. Mai, meldete Großbritannien den ersten Fall von Affenpocken, der mit dem seltenen Virus Infizierte hatte sich mutmaßlich auf einer Reise angesteckt. Seitdem nehmen die weltweit bestätigten Infektionen mit Affenpocken täglich zu: Erst am Montag meldete das israelische Gesundheitsministerium drei neue Fälle von Affenpocken, darunter den ersten bestätigten Fall einer Ausbreitung innerhalb Israels.
Mit Stand 15. Juni vermeldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) insgesamt 2.103 im Labor bestätigte Fälle, darunter wahrscheinlich einen Todesfall. Allerdings hinkt der WHO-Bericht stets nach, was die Übersicht der Lage betrifft: Tatsächlich gibt es bereits 2.780 gemeldete Fälle, Österreich verzeichnete bisher elf Fälle.
Anders als die klassischen Pocken verlaufen Affenpocken deutlich milder. Die mithilfe weltweiter Impfkampagnen seit 1979 ausgerotteten Pocken waren deutlich infektiöser und führten zu schweren Verläufen mit einer geschätzten Sterblichkeit von 30 Prozent. Die Übertragung verläuft über Berührung der Pusteln, über Tröpfchen aus der Atemluft bei engem Kontakt und durch kontaminierte Materialien wie z. B. Bettwäsche. Eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung galt vor dem Ausbruch als selten.
Das unerwartete Auftreten der Virus-Erkrankung in zahlreichen Ländern deutet darauf hin, dass es möglicherweise schon seit einiger Zeit eine unentdeckte Übertragung gegeben hat.
Die Ausbrüche betreffen vor allem Männer, die Sex mit Männern haben (Anm: Men who have Sex with Men, MSM) und in letzter Zeit mit neuen oder mehreren Partnern Sex hatten. Um homosexuelle Männer nicht zu stigmatisieren, wird in der Wissenschaft ausschließlich von Männern gesprochen, die Sex mit Männern haben. Da es sich um ein Verhalten handelt und dem Virus die sexuelle Orientierung egal ist. Auch Frauen können erkranken.
Es stellen sich zwei Fragen: Warum verursacht ein Virus, das sich nie über einige wenige Fälle außerhalb Afrikas verbreiten konnte, plötzlich einen weltweiten Ausbruch? Und warum sind die überwältigende Mehrheit der Betroffenen Männer, die Sex mit Männern haben (MSM)?
Das Virus ist möglicherweise in stark vernetzte sexuelle Netzwerke innerhalb der MSM-Gemeinschaft eingedrungen, wo es sich auf eine Weise ausbreiten kann, wie es in der Allgemeinbevölkerung nicht möglich ist, fasst Wissenschaftsjournalist Kai Kupferschmidt den aktuellen Stand der Forschung im Wissenschafts-Magazin Science zusammen.
Eine epidemiologische Modellstudie, die vergangene Woche von Forschern der London School of Hygiene & Tropical Medicine (LSHTM) als Preprint veröffentlicht wurde, unterstützt diese Idee. Sie deutet darauf hin, dass der Ausbruch weiter rapide zunehmen wird, wenn die Ausbreitung nicht eingedämmt wird. Dies hat auch Auswirkungen darauf, wie die am stärksten gefährdeten Personen zu schützen und die Ausbreitungen zu begrenzen sind, während das Risiko für die breite Bevölkerung gering bleibt.
"Ich denke, wir müssen mehr über Sex reden", sagt der Epidemiologe und ehemalige HIV-Aktivist Gregg Gonsalves von der Yale School of Public Health im Interview mit Science. "Alle haben sich sehr deutlich über die Stigmatisierung geäußert, und das immer wieder. Der Punkt ist, dass man sich immer noch mit dem Infektionsrisiko in unserer Gemeinschaft auseinandersetzen muss."
Verzerrtes Bild?
Forscher der britischen Gesundheitsbehörde (UKHSA) baten beispielsweise Patienten, Fragebögen auszufüllen. Von den 152, die den Fragebogen ausfüllten, gaben 151 an, MSM zu sein, schrieb das Team in einem am 10. Juni veröffentlichten technischen Briefing, ein Patient verweigerte die Antwort. In anderen Ländern wurden ähnliche Muster beobachtet.
Das könnte ein verzerrtes Bild ergeben: "MSM haben ein besseres Verhältnis zu Ärzten als heterosexuelle Männer", sagt Lilith Whittles, eine Expertin für Infektionskrankheiten am Imperial College London, was bedeuten könnte, dass sie mit größerer Wahrscheinlichkeit Symptome melden und sich auf das Virus testen lassen. "Ich weiß nicht, ob wir unbedingt genug in heterosexuellen sozialen Netzwerken suchen, um zu dem Schluss zu kommen, dass es sich nicht um ein breiteres Problem handelt", sagt Boghuma Titanji, ein Virologe an der Emory University, der in einer Klinik für sexuelle Gesundheit arbeitet.
Die meisten Forscher halten es jedoch für unwahrscheinlich, dass ein solcher "Erfassungsfehler" das auffällige Muster erklären kann. Zwar haben einige Affenpocken-Patienten leichte Infektionen, die übersehen oder falsch diagnostiziert werden können, doch andere haben sehr charakteristische Hautausschläge und quälende Schmerzen, die einen Krankenhausaufenthalt zur Schmerzbehandlung erfordern. Wenn viele Menschen außerhalb der MSM-Gemeinschaft erkrankt wären, würden sie jetzt mehr in den Statistiken auftauchen.
Anfangs teilweise unspezifische Symptome:
Fieber
Schüttelfrost
Kopf-, Rücken und Muskelschmerzen
geschwollene Lymphknoten
Erschöpfung
Hautveränderungen nach 1 bis 3 Tagen:
Ausschlag:
ausgehend von der Stelle der Infektion über den Körper
ausgehend vom Gesicht über den Körper
im Gesicht, an den Händen und Unterarmen
im Mund und Rachenraum
im Genitalbereich
auf den Augen
teilweise stark juckend oder schmerzhaft
durchläuft die typischen Stadien: Flecken, Bläschen, Pusteln und Krusten
Im weiteren Verlauf:
Bildung von Krusten
Abfallen der Krusten
Der Inhalt der Bläschen ist hochinfektiös. Ansteckungsfähigkeit besteht, so lange Krusten vorhanden sind. Im Durchschnitt sind dies drei Wochen.
Quelle: Österreichisches Gesundheitsministerium
Sexuelle Begegnungen spielen bei der Übertragung eindeutig eine Rolle: Von den 152 Personen laut britischer Gesundheitsbehörde wurden 82 zu zusätzlichen Interviews eingeladen, die sich auf ihre sexuelle Gesundheit konzentrierten. Von den 45 Personen, die daran teilnahmen, gaben 44 Prozent an, in den letzten drei Monaten mehr als zehn Sexualpartner gehabt zu haben, und 44 Prozent berichteten von Gruppensex während der Inkubationszeit.
Wie genau das Virus weitergegeben wird, ist weniger klar. Forscher haben Virus-DNA und sogar infektiöse Viren im Sperma einiger Patienten gefunden, aber sie sind sich nicht sicher, ob dies für die Übertragung wichtig ist, Haut-zu-Haut-Kontakt könnte ausreichen.
Sexuelle Netzwerke unter MSM unterscheiden sich nicht von jenen anderer Gruppen, betont Whittles, aber eine Kerngruppe von ihnen ist viel enger miteinander verbunden als Menschen außerhalb der MSM-Gemeinschaft. Sie wechseln ihre Partner häufiger und haben mit größerer Wahrscheinlichkeit mehrere Partner zur gleichen Zeit. "Diese Dinge kommen in allen sexuellen Netzwerken vor, es ist nur eine Frage des Ausmaßes", sagt Whittles. Und in einem dicht geknüpften Netzwerk ist es weniger wahrscheinlich, dass das Virus in eine Sackgasse gerät.
direkter Kontakt mit dem Ausschlag von Affenpocken-Infizierten (z.B. Bläschen, Schorf)
direkter Kontakt mit Körperflüssigkeiten von Affenpocken-Infizierten
direkter Kontakt mit Schleimhäuten von Affenpocken-Infizierten
Tröpfcheninfektion bei direktem engen Kontakt von längerer Dauer
direkter Kontakt mit Virus-kontaminierten Objekten (z.B. Bettwäsche, Kleidung)
vermutlich über die Plazenta (von der Mutter auf den Fötus)
vermutlich über den Geburtsvorgang (von der Mutter auf den Fötus)
Nach aktuellem Wissensstand findet die Übertragung von Mensch zu Mensch nur statt, während Symptome vorliegen, jedoch nicht in der Inkubationszeit.
Quelle: Österreichisches Gesundheitsministerium
Einige Wissenschafter lehnten Interviews mit Kupferschmidt ab: Sie hatten Angst, MSM zu stigmatisieren. Forscher Akira Endo stimmt zu: "Gleichzeitig verstehe ich aber auch, dass es ein Risiko in der anderen Richtung gibt - dass die Informationen diejenigen nicht erreichen, die sie am meisten brauchen, bevor es zu spät ist", sagt er.
Whittles pflichtet ihm bei und bezeichnet die Ergebnisse als "praktische Informationen, wenn man bedenkt, wo sie sich verbreiten. Es ist eine moralisch neutrale Sache", sagt sie. Das Virus könnte andere Netzwerke mit ähnlichen Merkmalen finden. So könnten sich die Affenpocken unter Sexarbeitern und ihren Kunden ausbreiten.
Wie schnell sich das Virus in den kommenden Monaten ausbreiten wird, hängt von den Kontrollmaßnahmen wie Leitlinien von nationalen Gesundheitsbehörden zur Verringerung des Infektionsrisikos oder Warnungen von Dating-Apps sowie einer Sensibilisierung von Gesundheitspersonal ab. Whittles: "Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, wie sich das Verhalten ändern kann, auch wenn es nicht bedeutet, dass die Menschen weniger Sex haben."
Kommentare