Unbemerkt in anderen Umständen: Was hinter verdrängten Schwangerschaften steckt
Von ihrem Gynäkologen erhoffte sich Karin S. (Name geändert), dass er ihr die Angst vor dem Krebs nimmt. Ihre beste Freundin hatte kurz zuvor die Diagnose Brustkrebs bekommen: "In mir ist Panik aufgeflammt, dass auch bei mir etwas nicht stimmen könnte", erinnert sie sich.
Die Praxis verließ die damals 42-Jährige mit einer anderen Diagnose: Sie war im 5. Monat schwanger. "Ich war entsetzt, dachte, mein Mann würde mich verlassen. Er wollte kein Kind mehr. Ich hatte Panikattacken, bin beim Frauenarzt heulend zusammengebrochen", erzählt sie.
Für das – für viele unvorstellbare – Verkennen von Schwangerschaftsanzeichen kann es körperliche Ursachen geben, erklärt Alex Farr, stellvertretender Leiter der Klinischen Abteilung für Geburtshilfe an der MedUni Wien: "Zum Beispiel die Fehlinterpretation der Einnistungsblutung (befruchtete Eizelle nistet sich in Gebärmutterschleimhaut ein, Anm.) als Regelblutung."
Manche Frauen würden nicht mit einer Schwangerschaft rechnen, weil sie etwa wegen einer Langzeitverhütungsmethode oder aus anderen Gründen keine regelmäßige Periode haben. "Und nicht jede Frau verspürt klassische Symptome wie Übelkeit oder Brustspannen."
Innere Konflikte
Meist spielt die Psyche die größere Rolle, weiß Gynäkologin Gabriele Graf-Knappitsch, Oberärztin am Sankt Josef Krankenhaus. "Wenn die Tatsache, schwanger zu sein, als bedrohlich wahrgenommen wird, setzen psychologische Mechanismen ein, die den Zustand in der Wahrnehmung unterdrücken. Alle Anzeichen werden falsch gedeutet", sagt Graf-Knappitsch, die auch als Psychotherapeutin arbeitet.
Dafür kann es diverse Gründe geben: "Etwa, weil man zu jung oder zu alt ist, bereits mehrere Kinder hat, der kulturelle Hintergrund eine Schwangerschaft verbietet oder man sozioökonomisch schlechter gestellt ist." Wenn der Bauch drückt, zieht und wächst, interpretiert die Frau das als Darmbeschwerden, die Gewichtszunahme wird auf die Ernährung zurückgeführt, eventuell sogar Diät gehalten. Bewegungen des Babys werden als Blähung übersetzt.
Manchmal werden Schwangerschaftssymptome als Zeichen einer schweren Erkrankung gedeutet. Frauen, die nach vielen Fehlgeburten wieder schwanger werden, verdrängen die Schwangerschaft mitunter aus Angst, wieder eine Fehlgeburt zu erleiden und den Schmerz ertragen zu müssen.
Kein Babybauch
Bei vielen dieser Frauen sei das Silhouettenphänomen zu beobachten, sagt Graf-Knappitsch: "Sie haben bis spät in der Schwangerschaft einen relativ flachen Bauch. Das Kind versteckt sich Richtung Wirbelsäule, weil die Bauchmuskeln so angespannt werden, dass sich der Bauch nicht von vorne wölbt." Erfahren die Frauen, dass sie schwanger sind, wird der Babybauch binnen kurzer Zeit sichtbar.
In manchen Fällen fungiere die Verdrängung als unbewusster Schutz vor einer Abtreibung, "zu der man womöglich gedrängt werden würde". Wie bei Karin S.: "Ich habe die Schwangerschaft negiert, bis es zu spät war für eine Abtreibung." Als sie die Geburt ihres dritten Kindes in einer Psychotherapie aufarbeitete, "wurde mir klar, dass ich dieses Kind unbedingt wollte, dass ich es sogar darauf angelegt hatte, schwanger zu werden. Menschen können sich vorzüglich selbst belügen."
Ist einer Frau nicht bewusst, dass sie ein Kind erwartet, verhält sie sich selten "schwangerschaftskonform". Das kann Folgen fürs Ungeborene haben. "Das größte Problem ist, dass die Schwangerschaftsvorsorge wegfällt", sagt Farr. Kontrolluntersuchen, bei denen das Wachstum und die Entwicklung des Babys kontrolliert werden, fallen weg. Der Umstand, dass weder auf die Gesundheit der Mutter, noch auf die des Ungeborenen geachtet und Probleme daher nicht frühzeitig erkannt werden, führe zu einer erhöhten Fehl- und Frühgeburtenrate.
Verdrängt
Von einer verdrängten Schwangerschaft spricht man meist, wenn die werdende Mutter davon erst nach der 20. Woche (zweite Hälfte der Schwangerschaft) erfährt. Studien zufolge betrifft das eine von rund 500 Frauen.
80.000 Babys kommen pro Jahr in Österreich zur Welt, in rund 30 Fällen wissen die Frauen bis zum Ende nichts von ihrem Zustand, rund 160 werdende Mamas erfahren sehr spät von der Schwangerschaft.
Muttersein im Zeitraffer
Schon in den Neunzigern forschten Mediziner an der Berliner Humboldt-Universität zu unbemerkten Schwangerschaften. Sie untersuchten 62 Frauen, die bis zur 20. Woche keine Notiz von ihrer Schwangerschaft genommen hatten. Es zeigte sich: Das Phänomen ist keine Frage des Alters oder des sozioökonomischen Status, wie auch Graf-Knappitsch bestätigt.
Mit dem Baby wachsen
Allerdings brauchen sie nach der Geburt anfänglich etwas mehr Unterstützung. "Wenn man nur 20 Wochen oder noch kürzer schwanger ist, hat die Seele wenig Zeit, sich vorzubereiten." Zwar ist der Neonatizid (Tötung des Kindes unmittelbar nach der Geburt, Anm.) Österreich ein Randphänomen (es gibt rund drei Fälle pro Jahr). Bei Frauen, die unerwartet, heimlich und ohne ärztliche Unterstützung entbinden, steigt wegen des psychischen Ausnahmezustands aber das Risiko.
Graf- Knappitsch: "Eine plötzliche Geburt ist – noch mehr als eine erwartete Entbindung – eine Extremsituation und kann die Frau in einen Schockzustand versetzen." Psychologische Unterstützung ermöglicht ein Verstehen der Situation. Je nach sozialem Hintergrund kann eine soziale Beratung hilfreich sein.
Seit Karin S. unbemerkter Schwangerschaft sind nun zehn Jahre vergangen. "Ich dachte, ich werde nicht alles haben – Kind und Mann. Aber als mein Kind da war, war sofort alles vergessen."
Kommentare