Allerberger: "Lockdown wäre nicht notwendig gewesen"
KURIER: Die Fallzahlen steigen, vor allem in Wien. Was läuft im Krisenmanagement gut, wo muss man sich unbedingt verbessern?
Franz Allerberger: Verbessern kann man sich immer. Das Krisenmanagement hat oberste Priorität und die Regierung steht seit 24. Februar voll dahinter. Nach einem halben Jahr kennen wir das Virus viel besser, haben auch viel Angst davor verloren. Unsicher ist, wie sich das kühlere Wetter im Herbst und Aufenthalte in geschlossenen Räumen auf die Neuinfektionen auswirken.
Apropos Unsicherheit: Ist die Corona-Ampel aus Sicht eines Infektiologen sinnvoll oder eine politische Showmaßnahme?
Man braucht eine gemeinsame Datenbasis, auf der man politische Entscheidungen trifft. Man sollte strikt trennen: Risikobewertung, das sollen die Experten machen, also das Risiko möglichst konkret in Zahlen gießen. Die Ampel basiert ja auf Zahlen. Risikomanagement, jene Entscheidungen, die man aus diesen Fakten zieht, sollten Politiker treffen.
Die AGES analysiert Infektionsketten, also Cluster. Wird das Virus durch die steigenden Fallzahlen unkontrollierbar?
Unkontrollierbar würde ich nicht sagen. Wir sind aber zum Teil erstaunt, wo Herde auftreten. Die Ursache für die Cluster ändert sich laufend und wir kommen immer erst ein bisschen später drauf, wer die Risikofaktoren sind. Im März war alles, was nennenswert war, auf Ischgl zurückzuführen. Vor wenigen Wochen kam die Hälfte aller Infektionen auf Kroatien-Heimkehrer. Die spielen kaum noch eine Rolle. Jetzt sind es Cluster, die zu einem erstaunlichen Teil aus der türkischen Community kommen. Vieles ist natürlich von außen eingebracht.
SARS-CoV-2 mutiert. Ist es dadurch eigentlich infektiöser oder gefährlicher geworden?
Wir haben hier ein RNA-Virus, das eher langsam mutiert. Es entwickelt etwa alle 14 Tage eine stabile Mutation, eine Art Fingerabdruck. Deshalb können wir die Infektionsketten nachverfolgen. Dass das Virus bösartiger oder harmloser wird, können wir nicht bestätigen. Heute sind zwar viele Mutationen im Umlauf, doch sie sind zu 99,9 Prozent ident mit dem ursprünglichen Virenstamm.
Influenzaviren mutieren weitaus häufiger als Coronaviren. Was bedeutet das für einen potenziellen Corona-Impfstoff?
Ich warne grundsätzlich vor Zukunftsvorhersagen bei Impfstoffen. Ich bin seit 40 Jahren im medizinischen Bereich tätig. Jedes Jahr lese ich in der Zeitung, dass ein Malaria-Impfstoff kommt. Jedes zweite Jahr liest man, dass ein AIDS-Impfstoff kommt. Beide gibt es bis heute nicht, obwohl viel Geld investiert wurde. Irgendeinen Impfstoff können Sie immer zusammen mischen. Die Frage ist, ob er wirkt und ob er nicht mehr Schaden anrichtet, als Nutzen.
Das klingt pessimistisch.
Ich würde es Pragmatismus nennen. Ich sehe nicht, warum wir hier plötzlich eine Garantie hätten, dass die Impfstoff-Generierung wirklich funktioniert. Wir haben hier einen Erreger, der für ältere Menschen gefährlicher ist als die saisonale Grippe. Bei Kindern ist Covid im Vergleich zur Grippe harmlos. Das implementiert: Wenn ich anfange zu impfen, muss der Impfstoff hundertprozentig sicher sein, sonst wäre das Ganze nicht zu verantworten.
Ist ein wirksamer Impfstoff überhaupt eine Lösung?
Gesellschaftspolitisch wäre er einfach ein starker Hebel, um der Bevölkerung Sorge zu nehmen. Wir wissen, dass das Impfen viele Leute beruhigt, auch wenn der Impfstoff nur wenig wirksam ist.
Wird Corona in Zukunft eine Saison haben, wie die Influenza?
Ich glaube, dass es sich gleich verhalten wird, wie die klassischen Betacoronaviren. Das ist eher eine schlechte Nachricht. Bei der saisonalen Influenza sehen wir, dass sie relativ schnell im Dezember hinaufschießt und im Februar praktisch von selber wieder verschwindet. Betacoronaviren kommen leider früher und halten länger an.
Also könnte die saisonale Kurve für den Rückgang im Sommer verantwortlich gewesen sein, nicht der Lockdown?
Unser Wissensstand ist derzeit, dass der Lockdown nicht für den Rückgang verantwortlich war, sondern dass dieser schon zwei Wochen vorher zu sehen war. Der Lockdown als solches wäre nicht notwendig gewesen, aber im Nachhinein ist klug sein leicht.
Welche Maßnahmen waren denn nicht notwendig?
Bundesgärten und Kindergärten hätte man nicht schließen sollen. Aus fachlicher Sicht bringen auch das Fiebermessen am Flughafen und die Grenzschließungen nichts. An der Grenze wurden zwei Millionen Leute kontrolliert und fünf Verdachtsfälle gefunden. Gleichzeitig steht die Gesundheitspolitik unter Druck. Der Staatsbürger verlangt Handlungen. Ich kann mit all dem leben, solange die Straßen nicht mit Desinfektionsmittel geflutet werden, wie damals in Wuhan.
Vorausgesetzt, das Virus bleibt: Wie kann man ältere Menschen auf Dauer schützen?
Das Virus wird bei uns bleiben. In zehn Jahren kann man wahrscheinlich darüber lächeln. Es wird ein normaler Winterinfekt sein. Am Ende des Tages braucht es eine Verhaltensänderung. Etwa, dass man im familiären Bereich Abstand hält. Ich habe eine Schwiegermutter, die 84 ist. Die sitzt am Sonntagstisch beim Mittagessen eineinhalb Meter entfernt, am anderen Ende des Tisches. Abstand halten, auf Bussi-Bussi und Händeschütteln verzichten: Ich glaube, das wird uns Monate, wenn nicht Jahre bleiben.
Sind wir bei den Testungen eigentlich schon schneller? Das haben Sie für den Herbst ja gefordert.
Wenn heute eine Probe ins Labor kommt, muss das Ergebnis am Nachmittag fertig sein. Dazu sind unsere Automaten problemlos in der Lage, sie brauchen etwa drei Stunden. Es darf im Herbst nicht sein, dass einzelne Personen tagelang auf ihr Ergebnis warten, das ist unakzeptabel.
Gibt es schon schnelle Alternativen zum gängigen PCR-Test?
Vielversprechend sind etwa die Antigen-Tests. Sie dürften zwar nur 46 Prozent der Infizierten finden, also jeden Zweiten. Aber, und das ist die positive Nachricht, sie finden die Hochinfektiösen. Der Test liefert in 15 Minuten ein Resultat und kostet nur sechs, sieben Euro. Ich glaube, dass in den kommenden zwei Monaten jeder Praktiker solche Soforttests zur Verfügung haben wird.
In Österreich gab es heuer bisher keine Übersterblichkeit – im Gegensatz zu Spanien, Belgien oder Frankreich. Was sagt uns das?
Die Übersterblichkeit ist das, was am Ende des Tages zählt. Sterbedaten sind aus Public-Health-Sicht das Um und Auf. Ob jemand lebt oder nicht, das sind Fakten, über die man nicht diskutieren muss. Im Hinblick auf die Todeszahlen kann sich Österreich einen Einser mit Sternderl ans Revers heften. Ja, das Virus wird auch in Österreich bleiben, aber früher oder später wird eine gewisse Grundimmunität auftauchen.
Infektiologie
Der 65-jährige Franz Allerberger leitet das Geschäftsfeld Öffentliche Gesundheit der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES). Der Experte analysiert mit seinem Team für das Sozialministerium, wie sich das Coronavirus ausbreitet
Ausbildung
Allerberger wuchs in Salzburg-Siezenheim auf, machte eine Tischlerlehre, studierte in Innsbruck Medizin und ist Facharzt für Hygiene und Mikrobiologie
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