Text Neck, X-Beine, Plattfüße: Schon jedes zweite Kind hat Probleme
Der Kopf ist nach vorne gekippt, der Blick geht senkrecht nach unten – direkt aufs Display des Smartphones. In dieser Haltung trifft man heute viele Kinder und Jugendliche an.
Für den heranwachsenden Körper bleibt das nicht ohne Folgen, warnt Karin Riedl, Oberärztin an der Kinderorthopädie und Fußchirurgie im Orthopädischen Spital Speising.
Auf der Omnipräsenz von Smartphones und Tablets fußt sogar die Entstehung eines neuen physiologischen Phänomens: der "Text Neck". Damit werden Beschwerden im Schulter-Nacken-Bereich bezeichnet, "die durch die Fehlhaltung der Halswirbelsäule beim Gebrauch digitaler Geräte entstehen", erklärt die Orthopädin. Meist handelt es sich nicht um eine dauerhafte Verformung – gezielte Physiotherapie hilft. Besorgniserregend ist das Symptom aber allemal: "Kinder gehen ja noch keinem Bürojob nach, der sich ähnlich negativ auf die Nackenpartie auswirken kann."
Die ausufernde Bildschirmzeit ist nur eine Facette des modernen, für die körperliche Entwicklung oft problematischen kindlichen Lebensstils. Kreist der Daumen ständig übers Display statt über der Fahrradklingel – und wird die Konsole im Kinderzimmer dem Spielen an der frischen Luft vorgezogen, ist Bewegungsmangel vorprogrammiert. In Kombination mit ungesundem Ernährungsverhalten droht Übergewicht.
"Das strapaziert das kindliche Skelett", sagt Riedl. Der Bewegungsapparat besteht aus Knochen, Muskeln, Sehnen und Bändern und dient dazu, Bewegungen schmerzfrei durchführen zu können. Bei Kindern verändert er sich im Laufe des Wachstums permanent. "Wichtig ist, dass zu Wachstumsabschluss durch körperliche Aktivität und ein gesundes Körpergewicht die Voraussetzungen dafür geschaffen sind, dass Arbeit und Freizeit in den folgenden Jahrzehnten ohne Beschwerden bewältigt werden können."
Die gute Nachricht: Das Wachstum macht den kindlichen Körper zwar sensibel für Haltungsschäden, aber auch flexibel. Heißt: Im Wachstum sind Fehlstellungen meist noch ohne Operation beeinflussbar, die Probleme wachsen sich sozusagen aus – wenn gegengesteuert wird.
Digitalrausch
Im Alter von 12 Jahren besitzen 95 Prozent der Kinder ein Smartphone. Die Bildschirmzeit bei den über 14-Jährigen liegt im Schnitt bei über 3 Stunden täglich.
Rückenleiden
5 bis 6 Prozent der Volksschüler, 12 Prozent der 11- bis 14-Jährigen und 43 Prozent der Jugendlichen ab 15 klagen über Rückenweh.
90 Prozent der 8- bis 11-Jährigen mit Adipositas zeigen Auffälligkeiten wie X-Beine oder Plattfüße, das trifft nur auf 25 % der normalgewichtigen Kinder zu.
Haltungsschwäche
1995 zeigten nur 23 Prozent der Schüler Wirbelsäulenauffälligkeiten, 2017 bereits 50 Prozent
Veranstaltung
Am 8. Oktober steht das Wiener Rathaus im Zeichen der "Volkskrankheit Schmerz". Bei freiem Eintritt stehen Vorträge und Beratung auf dem Programm. Infos unter schmerztag.at.
Oft zu spät erkannt
In ihrer Ordination bekommt Riedl immer öfter Kinder mit Haltungsproblemen, Wirbelsäulenfehlhaltungen und daraus resultierenden Beschwerden im Rücken-, Schulter- und Nackenbereich zu Gesicht. Übergewichtige Kinder plagen nicht selten Fehlstellungen an Beinen und Füßen, X-Beine oder Plattfüße.
Wobei der Begriff "plagen" hier nicht ganz zutreffend ist: "Für die Kinder selbst stellen weder X-Beine noch Plattfüße ein Problem dar, weil sie noch keine Beschwerden verursachen. Die Fehlstellungen werden deswegen erst spät erkannt und behandelt."
Anders bei Rücken- und Nackenbeschwerden: "Hier beginnt ein Teufelskreis, weil Kinder aufgrund der Schmerzen tendenziell noch weniger Sport machen." Betroffene Kinder fehlen öfter in der Schule, schlafen schlechter, sind öfter müde und unkonzentriert und fühlen sich weniger glücklich als gesunde Kinder.
Mehr Bewusstsein
Welche Bewegungsformen schützen das kindliche Skelett? "Förderlich ist, was Spaß macht", sagt Riedl. Wirbelsäule und Haltung profitieren speziell von Schwimmen oder Klettern sowie Sportarten, die die Balance trainieren, etwa Tanzen oder asiatische Kampfsportarten.
Riedl wünscht sich mehr Bewusstsein für die Folgen von Fehlstellungen im frühen Alter. "Bei Erwachsenen stellen chronische Rückenleiden mit acht Millionen Krankenstandstagen und Kosten von vier bis sechs Milliarden Euro pro Jahr eine teure Diagnose dar." Umso wichtiger sollte es sein, "Kinder zu rückengesunden Erwachsenen zu erziehen".
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