Der Besuch bei einer Kinderpsychiaterin half nicht. Das Gewicht fiel, die Verzweiflung stieg. Bis sie nach fünf Monaten in der Abwärtsspirale und der Warnung einer Kinderärztin die Notbremse zog und ihre 12-jährige Tochter ins Spital brachte. "Die Situation dort war schrecklich und so, wie ich es vermeiden wollte. Meine Tochter hat immer gesagt, sie würde es mir nie verzeihen, wenn ich sie 'abschiebe'."
Neben der Sorge um ihre Tochter waren die Vorwürfe anderer eine Belastung. "Ich hätte nicht gewusst, wie ich es anders lösen soll. Die Ärzte haben mir vorgeworfen, warum es so weit gekommen ist", erzählt sie. "Ich habe die Schule um Hilfe gebeten und die Diagnose mitgeteilt. Ich hätte mir gewünscht, dass die Turnlehrerin mit ihr spricht oder man Maßnahmen setzt. Meine Tochter wollte keinesfalls, dass es bekannt wird – und wir haben mitgespielt."
Beraterin Berger beobachtet problematisches Verhalten sowohl bei vernachlässigten Jugendlichen als auch bei Kindern besonders fordernder oder behütender Eltern. "Teenager rebellieren, speziell wenn man ihnen vermittelt, dass sie nicht okay sind. Dann sinkt ihr Selbstwert und sie suchen außerhalb der Familie. Eltern sollten herausfinden, was ihr Kind braucht – das können klare Grenzen sein oder mehr Verständnis."
Oft hört sie von Eltern Sätze wie "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" oder "Mein Kind muss sich das Vertrauen erst verdienen". Und dass es sich nicht an Vereinbarungen hält. "Aber es stellt sich heraus, dass es keine Vereinbarung war, sondern ein Befehl. Und wehren sich Jugendliche. Für sie macht es keinen großen Unterschied, ob sie um 23 Uhr oder 23.12 Uhr heimkommen. Sie wollen auf Augenhöhe kommunizieren."
Berger rät Eltern, ihre eigenen Ängste gegenüber ihrem Kind zuzugeben. Mit einer Formulierung "Ich mache mir Sorgen, wenn du spät unterwegs bist" könne ein Jugendlicher mehr anfangen als mit Verboten. "Ich habe eine Klientin, die mit ihrer Tochter ausgemacht hat, dass sie per Handytracking sehen kann, wo sie ist. Andere machen das hinter dem Rücken ihrer Kinder und die schalten es aus, sobald sie draufkommen." Das "System" sei oft keine Hilfe, es komme auf die handelnden Personen an, stimmen Füller und Berger überein: "Wenn man an einen Betreuer kommt, mit dem es nicht passt, kann es noch mehr eskalieren."
Dass mit der Kinder- und Jugendhilfe oft nur Kindesabnahmen assoziiert werden, bedauert Ingrid Pöschmann. Sie ist Leiterin des Referates Inklusion der MA 11, die in Wien für den Kinder- und Jugendschutz zuständig ist. Die Sozialpädagogin wünscht sich ein akkurateres öffentliches Bild: "Natürlich wollen wir Kinder schützen, aber auch Familien stützen." Man versteht sich als Serviceeinrichtung für Eltern, "die sich überlastet fühlen". Nicht die Notfall-Versorgung von Kindern stehe im Fokus, "sondern die präventive Begleitung".
In Wien werden werdende Eltern mit einem Wickelrucksack ausgestattet. Neben nützlichen Goodies finden baldige Mütter und Väter darin den Kontakt zur Elternberatung der MA 11. "Wir wollen möglichst bald bei den Müttern und Vätern andocken. Sie sollen wissen, dass sie sich an uns wenden können."
Die Paar- und Familienberatungsstellen MA 11 bieten anonyme und kostenlose Beratung in familienrechtlichen Fragen und bei psychosozialen Konflikten an. Ziel ist, die Erziehungsfähigkeit zu fördern und "darauf zu achten, dass das Kind mit seinen Bedürfnissen gesehen wird". In den Familienzentren können Elterngruppen ((Stillgruppen, Pubertätsgruppen, etc.) besucht werden, um sich auszutauschen. In den längerfristigen Eltern-Fit-Vortragsreihen bereiten Hebammen, Ärztinnen und Ärzte sowie Juristinne und Juristen auf die Geburt und das Leben mit Kindern vor. Ein spezielles Angebot gibt es für Eltern von Kindern mit Behinderungen: "Spezialisten kommen nach Hause und entlasten Eltern im Alltag."
Wenn ihre Tochter aus dem Spital kommt, gibt es eine angeordnete Familientherapie, erzählt Füller. Was sie Eltern rät, die mit der Situation überfordert sind? "Nie das Kind aufgeben und sich nicht die Fähigkeit absprechen lassen, – wieder – für das Kind sorgen zu können."
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