Angst, Trauer, Hilflosigkeit, Scham, Ohnmacht, Kontrollverlust – und schließlich der Impuls, sich das Leben zu nehmen. Wenn Kinder und Jugendliche einen Suizidversuch unternehmen, bleibt das Umfeld bestürzt und fassungslos zurück.
Neueste Zahlen, die nun im Vorfeld des Welt-Suizid-Präventionstags am 10. September veröffentlicht wurden, zeichnen ein düsteres Bild: Die jüngere Generation gerät demnach immer öfter in gefährliche emotionale Negativspiralen. Im Vergleich zu 2019 hat sich die Zahl der Jugendlichen, die nach einem Suizidversuch in den heimischen Kliniken behandelt werden musste, verdreifacht. Und: Mehr als die Hälfte aller Kinder, die 2022 akut psychiatrisch versorgt werden musste, hatte Suizidgedanken. Auch in der ambulanten Krisenintervention wird seit 2019 ein Anstieg der Fälle von Suizidalität um 30 Prozent verzeichnet.
Was das selbstgefährdende Verhalten bei Kindern und Jugendlichen befeuert, welche Altersgruppen besonders betroffen sind und worauf Eltern achten, bzw. was sie tun können, lesen Sie hier:
Krisenjahre blieben nicht folgenlos
Der Zeitraum deckt sich nicht zufällig mit der Corona-Pandemie, weiß Isabel Böge, Leiterin der Klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni Graz. "Die Krise hat bei ohnehin schon belasteten Kindern und Jugendlichen leider nicht selten zu tiefergehenden Problemen bis hin zur Suizidalität geführt", berichtet sie. Oft kann dann ein gar nicht so wichtiger, kleinerer Anlass die Verzweiflung gipfeln lassen. "Zum Beispiel ein Konflikt mit den Eltern oder mit Gleichaltrigen, zum Beispiel im Rahmen von Mobbing. Oder eine Trennung einer Liebesbeziehung."
Auch Leistungsprobleme in der Schule, zum Beispiel aufgrund von Konzentrationsstörungen bei einer Depression, können bei vormals leistungsstarken Kindern und Jugendlichen an den Rand der Verzweiflung führen. Was dann ganz wichtig ist: darüber sprechen zu können. Böge: "Allerdings war in der Pandemie Entlastung in der Peergroup oder im Umfeld kaum möglich. Jeder war mit seinen eigenen Themen beschäftigt."
Auch abseits der Pandemie ist Isolation ein Risikofaktor für selbstgefährdendes Verhalten. "Kinder brauchen Bezugspersonen, denen sie vertrauen, bei denen sie schwierige Themen besprechen und ihre Not lassen können", sagt die Expertin. Glücklicherweise, auch das betont Böge, gebe es im Kindes- und Jugendalter viel mehr versuchte als vollendete Suizide. Hierzulande sterben pro Jahr etwa 1.100 Menschen durch Suizid, etwa 25 bis 30 davon sind jünger als 18 Jahre.
Was sich ebenfalls verändert hat: Junge Menschen kündigen Suizide inzwischen immer öfter über soziale Medien – Instagram oder TikTok etwa – an.
Den Suizidversuchen liegen dabei entweder akute Krisen oder aber zunehmend komplexere Krankheitsbilder zugrunde. So haben akute Belastungsstörungen mit impulsiven Handlungen oder psychische Krisen, etwa bei Persönlichkeitsstörungen, bei den der Suizidalität zugrundeliegenden Krankheitsbildern zugenommen. Während die Depression gleichbleibend hoch vorhanden ist.
Eine besonders triste Beobachtung in Fachkreisen: Kinder sprechen teilweise schon im Volksschulalter - vereinzelt sogar im Kindergartenalter - über Suizidgedanken. "Grundsätzlich sind Kinder nicht in der Lage, vor dem neunten Lebensjahr ein Todeskonzept zu entwickeln", erklärt Böge. "Das bedeutet, dass sie nicht verstehen können, dass der Tod etwas Endgültiges ist." Dass ein Sechsjähriger gezielt in diese Richtung handelt, sei unwahrscheinlich. "Das heißt aber nicht, dass kleine Kinder Belastungen nicht mit drastischen Formulierungen äußern können. Zum Beispiel mit dem Satz: 'Ich mag so nicht mehr leben'."
Und auch, wenn solchen Gedanken keine unmittelbaren Taten folgen, sollten sie ernstgenommen werden. "Sonst kann die Situation Jahre später kippen."
Unterstützung in Krisen finden Sie hier:
Rat auf Draht ist die österreichische Notrufnummer für Kinder und Jugendliche. Die Nummer ist unter 147 rund um die Uhr anonym und kostenlos erreichbar.
Die Ö3-Kummernummer ist unter 116 123 täglich von 16 bis 24 Uhr und ebenfalls anonym erreichbar.
Die Telefonseelsorge ist unter der kostenlosen Telefonnummer 142 rund um die Uhr als vertraulicher Notrufdienst jeden Tag des Jahres erreichbar.
Auf der Website www.bittelebe.at finden Angehörige/Freunde von Menschen mit Suizidgedanken Hilfe.
Ernstnehmen: Das legt Böge Eltern, die bei ihrem Kind eine veränderte Stimmung wahrnehmen, allgemein ans Herz. Der Wunsch, das eigene Leben zu beenden, kommt nicht aus dem Nichts. "Suizid ist immer ein Endpunkt und entsteht nicht bei Jugendlichen, bei denen bisher alles in Ordnung war. Jugendliche wollen sich nicht umbringen, sie wollen aus einer für sie unerträglichen Situation heraus." Wenn sich das Kind zurückzieht, einsilbig wird, kaum mehr das Zimmer verlässt, ist das ein Warnsignal. Konkrete Suizidgedanken lassen Kinder meist am Rande fallen. Auch hier gilt: hinhören und ansprechen. "Am besten nicht konfrontativ eigene Schlussfolgerungen und Feststellungen den Jugendlichen hinknallen, sondern mit offenen Fragen Raum zum Reden geben."
Auch wenn Gesprächsangebote abgewehrt werden: dranbleiben und am nächsten Tag nochmal versuchen.
Vorbeugen sollte vor Nachsorgen kommen
Frühe Suizidversuche stellen einen der Hauptrisikofaktoren für spätere Suizide dar. Das Jugendalter hat für Suizidprävention daher besondere Relevanz. "Je mehr man vorbeugend anbietet, je mehr Möglichkeiten man in der Krise aufzeigt und je mehr Selbsthilfe man zur Impulskontrolle anleitet, desto kompetenter werden Kinder und Jugendliche im Umgang mit ihren Gefühlen – und umso seltener kommt es zu Suizid", sagt Böge.
Statt nur kurzfristig mit Krisenintervention aufzufangen, fordert Böge, die auch Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) ist, nachhaltige Bemühungen. Bereits vorhandene Suizidpräventionsprogramme sollten an Schulen flächendeckend umgesetzt werden. Bereits zum wiederholten Mal fordert die ÖGKJP außerdem einen kassenfinanzierten Zugang zu professioneller Hilfe für alle psychisch erkrankten Minderjährigen. Zusätzlich wird nach baulichen Maßnahmen zur Sicherung von bekannten Suizid-Hotspots verlangt.
Ein Gutes hatte Corona: Seit der Pandemie redet man offener über seelische Belastungen. Bis zur wirklichen Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen sei es aber noch ein weiter Weg, sagt Böge: "Dabei ist es in Ordnung in eine Krise zu kommen – denn es ist auch möglich, wieder rauszukommen."
Kommentare