Die Beweglichkeit der Zunge ist eingeschränkt
Laut Studien ist das Zungenbändchen bei etwa vier bis elf Prozent aller Babys kurz – das heißt allerdings nicht, dass es zu Problemen beim Stillen kommen muss, sagt Kindermediziner Andreas Repa, Oberarzt an der Neugeborenenstation im AKH Wien. "Wichtig ist, festzustellen, wie stark die Beweglichkeit der Zunge wirklich eingeschränkt ist. Im AKH sehen wir uns das bei jedem Neugeborenen nach der Geburt an und beurteilen die Zungenbeweglichkeit mit einem Score", erklärt Repa. Es werde etwa geprüft, ob das Baby die Zunge aus dem Mund strecken und ob ein Reflex zur seitlichen Zungenbewegung ausgelöst werden kann.
Liegt tatsächlich eine Einschränkung vor, wird das Bändchen nach Rücksprache mit den Eltern mit Schere oder Skalpell durchtrennt. Der sehr kurze Eingriff ist für die Kinder meist nicht schmerzhaft, da das Häutchen kaum mit Nerven versorgt ist. Zudem erhalten sie eine Zuckerlösung, die Schmerzen lindert. Repa: "Manche Babys weinen, wenn man ihnen den Mund öffnet, den Schnitt selbst spüren sie oft nicht und beruhigen sich schnell." Unmittelbar nach dem Eingriff können die Kinder wieder saugen.
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Früher wurde das Bändchen mit dem Fingernagel durchstoßen
Obwohl die Methode bereits im 17. und 18. Jahrhundert von Hebammen angewendet wurde – damals wurde das Bändchen für die Neugeborenen schmerzhaft mit einem langen Fingernagel durchtrennt – ist sie kaum bekannt. Auch im AKH wird das Bändchen erst seit etwa einem Jahr routinemäßig untersucht – auf Basis einer eigens erstellten Leitlinie.
Im ersten Jahr fand der Eingriff bei drei Prozent aller Neugeborenen im AKH auf der Geburtenstation statt. Davor wurden nur Kinder mit starker Verkürzung auf die Kinderchirurgie weitergeleitet und das Häutchen dort entfernt. Kindermediziner Repa betont, dass der Eingriff zurückhaltend durchgeführt wird und nur dann, wenn tatsächlich eine Einschränkung der Zungenbeweglichkeit vorliegt.
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USA: Explosionsartiger Anstieg beim Durchtrennen
Anders ist das in den USA, wie ein aktueller Bericht der New York Times aufdeckt. Demnach preisen Stillberaterinnen das Durchtrennen des Bändchens als "Wundermittel" bei Stillproblemen an und schicken Mütter großzügig zum Zahnarzt. Tatsächlich bieten in den USA Zahnärzte die Technik an und verwenden zum Durchtrennen einen Laser.
Laut einer Untersuchung der Zeitung hätten Stillberaterinnen und Zahnärzte die Methode "aggressiv gefördert", selbst bei Babys "ohne Anzeichen einer echten Zungeneinschränkung und trotz eines geringen Risikos schwerwiegender Komplikationen". In den USA sei die Zahl der Eingriffe am Zungenbändchen im letzten Jahrzehnt explosionsartig angestiegen. Die Leistung muss privat bezahlt werden und habe so manchen Zahnarzt reich gemacht, heißt es im Artikel.
Schmerzen nach Entfernung mittels Laser machten Ernährungssonde nötig
Doch nicht bei allen Babys führte das Lasern des Zungenbändchens zum Stillerfolg. Manche konnten aufgrund der Schmerzen nach der Laserbehandlung gar nicht mehr trinken und mussten mittels Sonde ernährt werden. Anders als beim Durchschneiden hinterlässt der Laser eine tiefere Wunde. Schwerwiegende Komplikationen seien zwar selten, aber der Eingriff mittels Laser könne sehr schmerzhaft sein.
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Neugeborenen-Experte Andreas Repa: "Natürlich ist es möglich, das Bändchen zu lasern, aber ich würde das nicht tun, wenn man es völlig unproblematisch durchschneiden kann. Zudem empfehle ich allen Eltern von Neugeborenen derartige Eingriffe nur bei Kinderärzten und Kinderchirurgen durchführen zu lassen."
Andere Ursachen für Stillprobleme sind häufiger
Belege für den Effekt des Durchtrennens gibt es wenige – die Methode ist kaum wissenschaftlich untersucht. Bei leichten Formen kommt es selten zu Beeinträchtigungen beim Füttern oder später beim Sprechen. Stillprobleme können zudem auch andere Ursachen als ein kurzes Zungenbändchen haben. Laut Repa gehe es bei Stillproblemen häufiger um die Anatomie der Brust und um die Anlegetechnik als um das Zungenbändchen. Es sollte daher zunächst abgeklärt werden, wie sehr das Bändchen tatsächlich Ursache für etwaige Stillprobleme ist.
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Hoher Druck, Stillen zu müssen
US-Experten, die in der New York Times zu Wort kommen, führen die starke Nachfrage nach der Durchtrennung des Bändchens auf einen gestiegenen Druck auf Mutter zurück, unbedingt stillen zu müssen. Mediziner Repa erlebt ebenfalls manchmal Mütter, die unbedingt stillen möchten und Angst davor haben, dass es nicht klappen könnte.
"Häufig sind das sehr gebildete Mütter oder solche, die sehr viel über die Wichtigkeit des Stillens gelesen haben und bei denen es dann, aus welchem Grund auch immer, nicht klappt. Stillen ist sehr gut für das Baby, aber es gibt überhaupt keinen Grund, ein Gefühl des Versagens zu haben oder das Gefühl, dass man nicht das Beste für das Kind tut, wenn es nicht klappen sollte."
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