Aber ist nicht vieles durch unsere Gene festgelegt, etwa unsere Begabungen?
Eben nicht – oder nicht nur. Die Gene spielen eine eher untergeordnete Rolle.
Im Jahr 2000 hatte man gedacht, mit der Entschlüsselung der menschlichen Erbsubstanz, der DNA, habe man das Lesebuch des Menschen entdeckt und könne jetzt alles nachlesen. Aber dann zeigte sich, dass es noch einen weiteren Code, den epigenetischen Code, gibt: Umwelteinflüsse, Lebensstil, Ernährung entscheiden darüber, welche Gene unser Organismus wie stark benutzt, welche Abschnitte an- und welche abgeschaltet werden. Und unsere Gene machen auch nur einen kleinen Teil des Erbgutes aus. Der Rest galt lange als Müll-DNA, quasi als dunkle Materie, ohne sinnvolle Informationen, ohne Baupläne für lebenswichtige Proteine. Aber heute wissen wir, dass es auch hier Steuerungsmechanismen gibt, die von unserem Lebensstil und der Umwelt beeinflusst werden. Und dass durch unser Verhalten ausgelöste Veränderungen der Aktivität unserer Gene über viele Generationen weitergegeben werden können.
Was bedeutet das konkret?
Dass zum Beispiel Eltern das Schicksal eines – künftigen – Kindes nicht nur über ihre Gene, ihre Erziehung, ihre Förderung beeinflussen werden, sondern auch über ihren Lebensstil lange vor der Zeugung. In den USA gibt es dazu auch schon ein Konzept mit dem Namen „preconception care“ – also Fürsorge für das Wohlergehen eines künftigen Kindes schon vor der Empfängnis. Ein Beispiel: Wir wissen heute, dass ein Vater, der stark übergewichtig ist und wenig Bewegung macht, seinem Kind ein erhöhtes Risiko mitgibt, selbst übergewichtig und stoffwechselkrank zu werden. Und das nicht nur deshalb, weil diese Eltern ihr Kind vielleicht weniger zu Bewegung animieren als schlanke Eltern. Sondern, weil gewisse, durch ihren Lebensstil erworbene genetische Markierungen über Generationen weitergegeben werden. Umgekehrt weiß man, dass durch viel Bewegung andere Abschnitte der Erbsubstanz aktiviert werden – und dadurch im Erbgut der Eltern Genabschnitte wirksam werden, die für die geistige Entwicklung des Kindes wichtig sind.
Und solche individuellen Muster der Aktivierung oder Stilllegung bestimmter Genabschnitte können über Generationen wirksam sein und das Leben beeinflussen?
Ja, hier gibt es Effekte über Generationen hinweg. Meine Großeltern konnten für mich etwas tun – und ich kann etwas für meine Enkel tun. Wir sind also viel mehr ein Produkt unserer Eltern, geprägt von ihren willkürlichen Entscheidungen, als die Medizin das bisher für möglich gehalten hätte.
Ein besonders wichtiger Aspekt ist der Umgang mit jungen Menschen: Wenn Jugendliche in der Prägephase der Pubertät gemobbt werden, kann die Wirkung des Stresshormons Cortisol verstärkt werden. Änderungen in der Genaktivierung sorgen dafür, dass Jugendliche, die ausgeschlossen werden, die dadurch ausgelöste Stressreaktion wie mit einem Schallverstärker noch viel intensiver verspüren. So etwas kann ein Kind an seine Nachkommen weitergeben, das Mobbing eines Elternteils begleitet auch die Kinder und Enkelkinder. Das ist ein Schicksal, das durch einen fürsorglichen Umgang miteinander vermieden werden kann.
Sie sind auch Theologe: Wie erklären Sie das unvermeidbare Schicksal?
Wir sind als Menschen Teil eines großen Universums. Ich denke, dass wir hier auch Gesetzen ausgeliefert sind, die wir heute noch nicht kennen, aber denen wir uns zu fügen haben, in Unkenntnis der wirklichen Zusammenhänge. Als gläubiger Mensch bin ich davon überzeugt, dass es hinter dem Universum eine transzendente Wirklichkeit gibt, die in unser Leben hineinwirkt. Das ist aber meine persönliche Sicht.
Wichtig ist mir: Oft glauben wir, punktuelle Ereignisse oder Entscheidungen seien schicksalshaft. Und sehen dabei nicht, dass sich dieses vermeintliche Schicksal schon lange angekündigt hat, dass es eine lange Entwicklung davor gab. Und dass es auf diesem Weg viele Möglichkeiten gegeben hätte, Dinge in diese oder jene Richtung zu beeinflussen und zu lenken.
Buchtipp: Johannes Huber: „Die Anatomie des Schicksals – Was uns lenkt“; edition a, 240 Seiten, 24 €
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