„Ohne Fleiß, kein Preis!“, „Der frühe Vogel fängt den Wurm“, lauten die Maxime der Leistungsgesellschaft. Nichtstun hat nach wie vor ein zweifelhaftes Image. Gleichzeitig sehnen sich immer mehr Menschen nach Muße. Der so wichtige „Zwischenraum“ bleibt trotzdem unterschätzt. Wolkengucken war mal. Pausen bestehen nun eher darin, sich mit Hilfe des Smartphones die Zeit zu vertreiben. Dort kann dann jeder lesen, welchem neuen Lifestyletrend er folgen sollte, um zur Ruhe zu kommen. Aktuell etwa „Niksen“, die „niederländische Kunst, nichts zu tun“ als Aufruf zum radikalen Müßiggang, auch im Alltag. Wer es also schafft, auf die Straßenbahn zu warten und dabei in die Luft zu schauen oder dem Zwitschern der Vögel zu lauschen, nährt Psyche und Körper. Dabei geht es nicht darum, als Couch-Potato zu vergammeln, sondern die Rhythmen des Lebens intensiv wahrzunehmen – als Gegenbewegung zum Dauerstress. Aber wie funktioniert das?
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Sinn für Rhythmus
Darüber habe ich mich unlängst mit der Autorin und Zen-Lehrerin Fleur Wöss unterhalten, deren Buch „Innehalten“ immer auf meinem Nachttisch liegt. Was sie sagt, stimmt nachdenklich: „Uns ist der Sinn für Rhythmus verloren gegangen. Der Peak ist immer oben, auch deshalb, weil die Menschen danach suchen.“ Es gibt zu viel von allem, zu viele Informationen, zu viele Menschen, zu viel Lärm, zu viele Anforderungen, zu viel Zeitdruck. Das sei wider die Natur, weil jeder Organismus seinem individuellen Takt folgt. Ein Kommen ein Gehen, Auf und Ab, Aktivität und Ruhe. Vielen Menschen ist das Gespür dafür abhandengekommen, sagt Wöss. Sie träumt von einer Revolution der Leere, die bei der Idee des Zwischenraums beginnt: „Betrachtet man den Zwischenraum, sieht man nichts. Denkt man ihn mit, dann verändert sich die Welt. Nämlich dass das Nichts, die Pause, die Zwischenräume, die Leere Ihrem Leben Reichtum und wahre Fülle eröffnen können.“
Kreatives Tagträumen
Nun kann sich jeder fragen, wann er zuletzt nichts getan hat. So sehr nichts, dass ihm womöglich langweilig wäre. Dabei wird einmal mehr deutlich, dass jede Kurve nach oben eine Kurve nach unten braucht. Oder wie Fleur Wöss es formuliert: „Jeder Reiz das Gegenspiel des Abschaltens benötigt.“ Momente der Stille können den Blutdruck senken, ist wissenschaftlich belegt.
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Dass sie keine Zeitverschwendung sind, bewiesen Neurowissenschaftler. Erst im Zustand des Tagträumens wird das Gehirn aktiv und kreativ, Erinnerungen und Emotionen werden verarbeitet. Der mentale Leerlauf schafft Raum für Ideen oder Lösungsansätze, ohne dass es einer extra Anstrengung bedarf. Außerdem werden damit die „inneren Jagdhunde“ gezähmt, wie Fleur Wöss den geistigen Zustand innerer Rastlosigkeit und des Gehetztseins beschreibt. Er entsteht nicht, indem sich das Hirn permanent neue Check-Listen ausdenkt, sondern ist das Ergebnis einer inneren Einstellung, „die bleibt, auch wenn wir nicht so viel zu tun haben.“ Mit äußeren Einflüssen gehen die „Jagdhunde“ eine unheilvolle Allianz ein. Die „unbesetzte“ Zeit gegen Ende des Jahres ist ideal, sich dessen bewusst zu werden, einen To-do-Gang zurückzuschalten und reizfreie Momente einzuplanen. Ein Schlendern durch die Zeit, um manches zu reflektieren: Was soll gehen, was soll mit?
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Zeit des Aufräumens
„Die Tage laden ein, die Welle ausschwingen zu lassen. Für mich ist das die Zeit des Aufräumens“, sagt Fleur Wöss. Das betrifft auch den ersten Jänner, den sie so gestaltet, wie sich das neue Jahr wünscht: „Der 31. Dezember gehört deinen Freunden, der erste Jänner gehört dir“, sagt sie. Sie verbringt ihn, wie es in Japan oft üblich ist: „Dort wird der Jahresbeginn dazu verwendet, vieles bewusst zum ersten Mal zu machen. Kalligrafieschüler schreiben Schriftzeichen auf Papierrollen, um das Jahr mit guten Gedanken zu begrüßen. Glück, Freude und langes Leben stehen auf den Neujahrskunstwerken.“ Erste Gedichte („Haikus“) werden formuliert – sie feiern die „erste Sonne“ oder das „erste Lächeln“.
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