Bald wird alles besser. Bald ist der Feiertagsstress vorbei, das Projekt auf der Arbeit abgeschlossen, das Meeting beendet. Bald können wir wieder die Füße hochlegen, haben Zeit für Hobbys und Ressourcen für die Familie.
Nur: Dieses "bald" rückt immer weiter in die Ferne. Die To-do-Liste wird länger und das Privatleben so straff organisiert, als sei es ein Job für sich. Für viele Menschen sei es längst normal, ständig gestresst zu sein, sagt der Psychiater Bert te Wildt.
"Wer nicht permanent an der Grenze zum Burn-out arbeitet, leistet zu wenig, hört man oft. Das führt zu einer Verschleppung des Burn-outs und zu einer chronischen Erschöpfungsdepression." Dieses neu Phänomen nennt er Burn-on: Statt wie beim Burn-out vor Erschöpfung schnell auszubrennen, glüht man beim Burn-on langsam aus.
"Mehr Patienten, die chronisch erschöpft sind"
Österreich steht unter Stress. Laut Zahlen der Arbeiterkammer gelten etwa 10 Prozent der heimischen Erwerbstätigen als Burn-out-Betroffene. Jeder 5. bis 6. österreichische Arbeitnehmer ist gefährdet. Menschen wie sie kommen unter anderem zu Bert te Wildt. Er ist Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen. Dort, im ehemaligen Kloster St. Vinzenz am Ammersee in Bayern, behandelt er Menschen, die auf die eine oder andere Weise überlastet sind - und hat festgestellt: "Es kommen immer weniger Patienten mit der klassischen akuten Erschöpfung, also einem Zusammenbruch wie bei einem Burn-out. Stattdessen sehen wir immer mehr Patienten, die chronisch erschöpft sind und eine versteckte Depression haben."
Zusammen mit seinem Kollegen, dem Psychologen Timo Schiele, hat er ein Buch über das Phänomen geschrieben. Burn-on, so erklärt er darin, beschreibt höchste Leistungsbereitschaft bei gleichzeitig anhaltender Erschöpfung. Soll heißen: Anders als beim Burn-out, bei dem Menschen irgendwann körperlich zusammenbrechen und es plötzlich nicht mehr schaffen, aus dem Bett aufzustehen, machen Burn-on-Betroffene immer weiter. Kopfschmerzen, Tinnitus, Bluthochdruck oder Schlaflosigkeit sind mögliche Folgen. Aber auch permanente Erschöpfung, Angstzustände oder Panikattacken.
Wenn Burn-out-Patienten kommen, sind die schon total runtergefahren. Die Burn-on-Patienten sind noch total angespannt
von Bert te Wildt, Psychiater
An lebensmüden Gedanken leiden
Dennoch hätten Betroffene große Schwierigkeiten, aus ihrem Hamsterrad auszusteigen, erklärt te Wildt. "Wir haben Patienten, die uns bei der Aufnahme sagen, dass es ihnen eigentlich gut geht und sie nur ein bisschen erschöpft seien. Und dann erzählen sie uns fünf Minuten später, dass sie eigentlich permanent unter lebensmüden Gedanken leiden."
Denn mit dem Brotjob hört die Anspannung nicht auf. "Ihr Arbeitsrhythmus wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus. Um dem Burn-on entgegenzuwirken, wird oft viel Sport getrieben und viel zur Entspannung gemacht. Aber auch das wird alles bloß abgearbeitet und führt nicht zu einer wirklichen Entlastung, sondern dient nur wieder dem Erhalt der Arbeitsfähigkeit."
Unterstützung in Krisen finden Sie hier:
Rat auf Draht ist die österreichische Notrufnummer für Kinder und Jugendliche. Die Nummer ist unter 147 rund um die Uhr anonym und kostenlos erreichbar.
Die Ö3-Kummernummer ist unter 116 123 täglich von 16 bis 24 Uhr und ebenfalls anonym erreichbar.
Die Telefonseelsorge ist unter der kostenlosen Telefonnummer 142 rund um die Uhr als vertraulicher Notrufdienst jeden Tag des Jahres erreichbar.
Auf der Website www.bittelebe.at finden Angehörige/Freunde von Menschen mit Suizidgedanken Hilfe.
Junge Frauen sind stark betroffen
"Ich muss funktionieren", hört te Wildt dann oft. Vor allem bei jungen Frauen beobachtet er, dass sie zu hohe Erwartungen an die eigene Leistungsfähigkeit stellen. Eine Beobachtung, die auch Daniela Tschallener teilt. Die Psychotherapeutin aus Vorarlberg sieht das Phänomen Burn-on schon länger bei ihren Patientinnen und Patienten. Mit der Definition von te Wildt hat es erstmals einen Namen bekommen. "Wenn man Betroffenen davon erzählt, sagen viele: 'Ja, das ist genau das Gefühl, das ich meine.'"
Dass Menschen immer weitermachen, obwohl sie eigentlich schon am Ende ihrer Kräfte sind, führt Tschallener auf einen zunehmenden gesellschaftlichen Leistungsdruck zurück. "Als Gesellschaft erhöhen wir ständig das Arbeitstempo, alles muss optimiert werden - auch im privaten Bereich." Ein weiterer Treiber seien die sozialen Medien. "Dort wird ständig suggeriert, wie ein perfektes Leben auszusehen hat. Und obwohl das nicht der Wahrheit entspricht, wollen viele - vor allem junge Frauen - dem entsprechen."
Ab wann Stress für einen Menschen zum Burn-on und damit zur akuten Gefahr für weitere Erkrankungen wird, lasse sich zwar nicht pauschal beantworten, "aber wenn jemand ständig angespannt ist, unter Muskelverspannungen, Schlaflosigkeit oder Bluthochdruck leidet oder psychische Probleme hat, dann sollte man gegensteuern", sagt Psychiater te Wildt.
Auch wenn jemand anfängt, sein Arbeitspensum zu verheimlichen, "ist wahrscheinlich eine Grenze überschritten", sagt er. Tschallener wiederum wird hellhörig, "wenn mir Patienten sagen: 'Die Arbeit ist so anstrengend geworden, dass es mir nichts ausmachen würde, wenn ich jetzt eine Grippe bekomme und zehn Tage zu Hause bleiben kann', dann ist klar, dass man sich eine Auszeit wünscht."
Wie hilft man Menschen, aus dem Hamsterrad auszusteigen?
Viele Patientinnen und Patienten, die zu te Wildt kommen, haben in der Nacht zuvor noch gearbeitet - oder die Arbeit gleich mit in die Klinik gebracht. Für sie geht es in erster Linie um Entschleunigung. "Wir bringen sie quasi in einen künstlichen Burn-out-Zustand, also eine Art Vollbremsung. Das ist zunächst beängstigend und schmerzhaft", sagt der Psychiater. "Denn erst wenn sie auf sich selbst zurückgeworfen werden, spüren sie, wie depressiv und fremd sie sich eigentlich geworden sind."
Wenn sie einmal zur Ruhe gekommen sind, geht es darum, wieder Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen und Werten zu finden. Te Wildt und sein Team arbeiten dafür viel mit Körper-, Kunst- oder Musiktherapie. "Die Menschen sollten sich fragen, ob die Arbeit mit der Lebenssituation noch stimmig ist und ob es nicht mehr Abgrenzung braucht - in Bezug auf die eigenen Bedürfnisse und die der Angehörigen."
In ihrer psychotherapeutischen Praxis versucht Tschallener gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten zu analysieren, welche Kipppunkte es in ihrem Alltag gibt: "Zum Beispiel, wenn es beim Sport nicht mehr um Erholung, sondern nur noch um Leistung geht". Die zentrale Frage für sie ist: "Wo finde ich etwas, das ich für mich tue und nicht für außen. Denn wenn man sich nur nach außen richtet, geht man innerlich verloren."
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