Unter Misophonie versteht man eine Überempfindlichkeit gegenüber Lauten. Wortwörtlich aus dem Griechischen übersetzt bedeutet der Begriff so viel wie "Hass auf Geräusche". Wobei sich die negativen Empfindungen "nicht gegen alle Geräusche gleichermaßen, sondern gegen klar abgegrenzte richten", erklärt Johannes Lanzinger, Klinischer und Gesundheitspsychologe in der auf Phobien spezialisierten Wiener Praxis Phobius. "Gemein ist ihnen, dass sie von Menschen verursacht werden, zum Beispiel Ess- und Kaugeräusche, Schniefen oder auch das Umrühren des Löffels in einer Kaffeetasse."
Aggressionsgefühle, die sich bei Betroffenen breitmachen, seien zudem kontextabhängig: "Das bedeutet, dass im Grunde nicht das Geräusch an sich das Problem ist."
Misophonie: Gefühl des Kontrollverlusts ist zentral
Brandenberger kennt den selektiven Charakter der Misophonie. "In der Arbeit hat mich mal das Tastaturtippen eines bestimmten Kollegen rasend gemacht – die Tippgeräusche der anderen waren kein Problem", schildert die frühere Hotelmanagerin. "Das eigene Tippen oder Schmatzen macht Misophonikern meist nichts aus, was darauf hindeutet, dass es um das Gefühl des Ausgeliefertseins geht", sagt Lanzinger. Auch die emotional aufbrausende Reaktion sei ein Indiz, dass "versucht wird, Kontrolle zurückzugewinnen".
Während Psychologen das Phänomen schon lange kennen, wurde der Begriff "Misophonie" erst Anfang des 21. Jahrhunderts geprägt. "Seither erscheinen immer wieder Forschungen zum Thema, insgesamt ist die Studienlage nach wie vor dünn", weiß Lanzinger. Inzwischen geht man davon aus, dass 20 Prozent der Bevölkerung Probleme mit gewissen Geräuschen haben. "Von rund sechs Prozent wird Misophonie im Alltag als einschränkend erlebt, rund ein Prozent hat so massive Probleme, dass man von einer Störung spricht", sagt Lanzinger.
Eine klassische Diagnose ist die Misophonie nicht. "Sie ist im Bereich der Angst- und Zwangsstörungen anzusiedeln, mit denen sie oft zusammen auftritt", sagt Lanzinger. Auch Depressionen treten häufig gepaart mit Misophonie auf.
Tatsächlich haben misophonische Empfindungen meist nichts mit einer Abneigung einem Mitmenschen gegenüber zu tun. "Im Gegenteil", sagt Brandenberger, "bei Menschen, die mir sehr nahestehen, ist es oft am schlimmsten".
Sozialer Rückzug als einziger Ausweg
Bei vielen Misophonikern finden sich bereits in der Kindheit Hinweise auf eine Geräuschempfindlichkeit. Brandenberger wurde um ihren 30. Geburtstag herum bewusst, dass "etwas nicht stimmt". Damals "kam ich frisch zu einer Patchworkfamilie hinzu und habe das Schmatzen der Kinder als enorm belastend erlebt". Heute weiß Brandenberger, "dass ich damals mit der Gesamtsituation überfordert war und keine Mechanismen zur Selbstregulation zur Verfügung hatte".
In dieser Zeit wurden auch andere Geräusche für Brandenberger unerträglich. "Ich begann, mich zurückzuziehen, bin kaum noch mit Freundinnen essen gegangen – ich habe mich total dafür geschämt, dass ich so ungut auf andere reagiere."
Dann stieß Brandenberger zufällig auf einen Zeitungsartikel zum Thema. "Das war das erste Mal, das ich meinem Zustand einen Namen geben konnte." Im Zuge einer Ausbildung zur Lebens- und Sozialberaterin setzte sie sich gezielt mit der Misophonie auseinander. "Heute gehe ich besser damit um", sagt Brandenberger, die sich mittlerweile als Coachin auf Misophonie spezialisiert hat. "Ich habe gelernt, Triggergeräuschen selbstbewusst zu begegnen, und ich weiß, wie ich mich beruhigen kann, wenn es darauf ankommt."
Gene bis traumatische Ereignisse
Über die Entstehung ist vieles unklar. "Wir gehen von einer genetischen Komponente aus", sagt Lanzinger, "wahrscheinlich spielen Lernmechanismen und traumatische Erlebnisse eine Rolle". Dass Misophonie heute häufiger auftritt als früher, kann der Psychologe nicht bestätigen: "Wir werden immer besser darin, solche Phänomene zu benennen, deswegen scheint es vielleicht so, als wären mehr Menschen betroffen."
Leichtere Formen verschwinden oft von selbst bzw. treten phasenhaft verstärkt auf. "Vor allem in belastenden Lebensphasen mit viel Stress, Veränderung oder Schicksalsschlägen, tritt es intensiver auf", sagt Lanzinger. Eine Therapie zielt darauf ab, Betroffenen Stressbewältigungsstrategien und Entspannungstechniken näherzubringen. Ein wichtiger Teil der therapeutischen Arbeit ist, das Vermeidungsverhalten – viele Betroffene meiden bekannte Triggergeräusche aus Angst – abzubauen. "Weil damit die Fähigkeit, mit dem Auslöser umzugehen, abgebaut wird."
Im geschützten Rahmen werden Patientinnen und Patienten ermutigt, sich Geräuschen zu stellen und einen Umgang damit einzuüben.
An stressigen Tagen beäugt Isabell Brandenberger das Chipssackerl nach wie vor mit leichtem Argwohn. "Dann rufe ich mir in Erinnerung, dass es mir, wenn ich in Italien am Meer sitze und es Chips zum Aperol gibt, total egal ist."
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