Riskante Überholmanöver, überhöhte Geschwindigkeit, kein Blinken, plötzliches Reinschneiden, lautes Hupen ... nicht selten hat man das Gefühl, dass beim Autofahren bzw. im Straßenverkehr das Recht des Stärkeren zu gelten scheint.
Dabei sollte genau das Gegenteil die Norm sein, nämlich Rücksichtnahme und defensives, vorausschauendes Fahren. Die Realität sieht jedoch oft anders aus – die Ursachen dafür können vielfältig sein.
Hand auf's Herz: Wie oft schimpfen oder schreien Sie gar beim Autofahren? Oder weisen andere Verkehrsteilnehmende mit der Lichthupe zurecht?
Emotionen sind ein wesentliches Stichwort. Sie sind seit jeher unsere täglichen Begleiter im Straßenverkehr – und standen im Fokus einer Umfrage, die der ÖAMTC 2024 unter 1.300 Verkehrsteilnehmenden (Alter 17 bis 60 Jahre) durchgeführt hat. Diese zeigte: Jeder Vierte erlebt aggressives Fahrverhalten täglich, 57 Prozent zumindest einmal im Monat.
59 Prozent gaben zudem an, dass sich aggressives Fahrverhalten in den vergangenen fünf Jahren gehäuft hat. Ähnliches liest sich auch aus einer Erhebung des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KFV) aus dem Vorjahr, bei der 55 Prozent der Befragten der Meinung waren, dass die Spannungen zwischen den Verkehrsteilnehmenden hierzulande in den vergangenen Jahren merkbar zugenommen haben.
Übrigens kein österreichisches Phänomen: Eine ähnliche Entwicklung ist laut Forschenden auch in Deutschland zu beobachten.
Grundsätzlich sollten wir alle das gleiche Grundbedürfnis haben: Rasch und sicher ans Ziel zu kommen. Warum also rasten wir im Verkehr so oft aus?
"Die aggressive Handlung muss nicht mit einer unmittelbaren Gegebenheit auf der Straße zusammenhängen", so ÖAMTC-Verkehrspsychologin Marion Seidenberger. "Oftmals ist sie ein Nachhall-Effekt von einer völlig anderen ärgerlichen Situation, etwa in der Partnerschaft oder im Beruf – und die Verkehrsteilnehmer um mich werden dann zum Ventil."
Erlebt man Aggression und gefährliche Situationen im Straßenverkehr, können diese wiederum bei einem selbst Aggressionen auslösen – und der Teufelskreis nimmt seinen Lauf. Verschärfend hinzu kommen äußere Umstände wie Hitze, Stau oder Fahrplatzverengung. Die Expertin vom ÖAMTC nennt Zeitmanagement hier als einen wesentlichen Helfer. "Wenn ich mir die Zeit gut einteile, kann mir zumindest der Mistwagen, der lange vor mir stehen bleibt, nicht gleich den Tag verderben."
Was stresst am meisten beim Autofahren?: Riskantes Überholen (56 Prozent ), gefolgt vom Befahren der Rettungsgasse (55 Prozent), Drängeln und dichtes Auffahren (49 Prozent), nicht angepasster Fahrweise bei Schlechtwetter (45 Prozent), dem Blockieren mehrerer Parkplätze (43 Prozent) und Vorrangverletzungen (41 Prozent).
Geringeren Ärger verursacht das verzögerte Losfahren bei grüner Ampel (21 Prozent), Langsam- und Mittelspur-Fahren auf Autobahnen (je 26 Prozent) sowie Parken in zweiter Spur (28 Prozent).
Bei der Frage, was den Ärger verstärkt, wurde am häufigsten schlechte Sicht (31 Prozent) genannt, danach hohes Verkehrsaufkommen (28 Prozent) und Zeitdruck (26 Prozent).
Auto und Fahrrad als Statussymbol
Doch was tun gegen die vermeintlich allgegenwärtige Rücksichtslosigkeit, die immer mehr zu werden scheint? Hier mahnt die Expertin alle Verkehrsteilnehmenden zu mehr Achtsamkeit und einem Miteinander, auch wenn Autofahrer als die "stärkeren" gelten. "Esbeginnt schon bei Fußgängern, die sich sichtbar mit Kopfhörern von der Außenwelt 'abschotten' und den Eindruck vermitteln 'Ich bin alleine in meinem Universum und will nicht gestört werden'. Oder bei Fahrrad- oder Rollerfahrern, die in vollem Tempo über den Radweg rauschen. Eigenverantwortung muss von allen kommen."
Nicht zu vergessen: Autos werden immer größer, breiter und schneller. Hier kann der falsche Eindruck einer "Unverwundbarkeit" entstehen und zu weniger Vorsicht führen, warnt die Expertin. Auch der Preisfaktor schwinge psychologisch mit, und das nicht nur bei Pkws. "Fahrräder werden ebenfalls immer kostspieliger und hochwertiger – man denke etwa an E-Bikes. Es kann einen Schutz- und Verteidigungsdruck geben, dass diesem teuren Sachbesitz nichts passieren darf. Das gilt natürlich auch für Autos oder Motorräder, vor allem, wenn diese zu einer Art Statussymbol werden."
Pendler geben den Takt vor, Frauen fahren (meist) umsichtiger
Auch das Thema Pendlerverkehr ist gerade in Wien ein großes. Laut der letzten Kordonerhebung für Ost-Österreich queren täglich 617.000 Personen die Grenze stadteinwärts, davon 77 Prozent mit dem Pkw. Immerhin: Ihnen komme gerade diese Erfahrung zugute.
"Das 'täglich' ist hier eine wichtige Komponente. Pendlerinnen und Pendler wissen dadurch genau, wann sie wegfahren müssen, um bestmöglich anzukommen. Sie sind somit leitende Verkehrsteilnehmende, man könnte sie 'Taktgebende' nennen. Auch wenn kurzfristig Baustellen eingerichtet werden, sind sie oft diejenigen, die maßgeblich zur Flüssigkeit des Verkehrs beitragen. Es sind eher jene, die seltener fahren und plötzlich eine neue Situation erleben, die vor mehr Herausforderungen stehen," so Verkehrspsychologin Seidenberger.
Unterschiede im Fahrverhalten würden sich jedoch zwischen Männern und Frauen beobachten lassen. "Erziehungsbedingt sind Frauen noch immer tendenziell diejenigen, die die Sache sicherer und ruhiger angehen. Natürlich gibt es auch sehr 'durchsetzungsstarke' Verkehrsteilnehmerinnen. Aber auch von versicherungstechnischer Seite sieht man: Frauen verursachen eher kleinere Unfälle mit Sachschäden, im Gegensatz zu Männern."
Eine Theorie, warum rücksichtsloses Fahrverhalten zunimmt, ist laut Seidenberger, dass aggressive Verhaltensweisen generell gesellschaftlich immer anerkannter werden. "So ein Verhalten gilt dann als 'durchsetzungsstark' oder 'leistungsfähig', nach dem Motto: 'Der/die scheut vor keiner Diskussion'... Gerade wenn Vorbilder wie Stars, Musiker oder Politiker so agieren, neigen wir dazu, solche Muster zu übernehmen."
Fällt man öfter mit aggressivem Verhalten auf, gilt es, die Ursachen zu erkunden, bevor man zur Gefahr für sich und andere wird. "Meist gibt einem ja schon das familiäre Umfeld Hinweise, wenn man ein hitzköpfiger Typ ist. Und man spürt Aggression ja auch körperlich: Hitze, die innerlich aufsteigt, Schweißausbruch, verspannte Muskeln … Als reflektierter Mensch könnte man schon bei diesen ersten Anzeichen versuchen, gegenzusteuern," so die Expertin.
Ablenkung kann etwa im unmittelbaren Moment des Ärgernisses eine hilfreiche Strategie sein. "Manche greifen zum Beispiel zum Pfefferminzkaugummi, damit der scharfe Geschmack dem Impuls entgegenwirkt. Anderen helfen gezielte Entspannungstechniken wie Atemübungen. Manche beginnen, ein Gedicht aufzusagen, auch Musik kann nützlich sein. Das Ziel ist, den Fokus zu wechseln, um aus der erhitzten Situation herauszukommen. Das kann als kurzfristige Möglichkeit funktionieren," weiß die Verkehrspsychologin.
Langfristig bräuchte es aber andere Wege, um aggressive Impulse besser zu kontrollieren. "Viele nennen Sport als Methode, um sich abzureagieren. Und natürlich kann man auch professionelle Hilfe aufsuchen, wenn man merkt, dass man es von selbst nicht schafft."
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