Blockade mit weitreichenden Folgen
"Menschen mit Alexinomie wollen andere namentlich ansprechen und versuchen das auch – es gelingt ihnen aber nicht", erklärt Psychologe Thomas Ditye, der die Untersuchungen zusammen mit Kollegin Lisa Welleschik leitet. Betroffene hätten weder Gedächtnisprobleme noch Schwierigkeiten bei der lautlichen Aussprache. "Es liegt eine Blockade und letztlich wohl eine Angst vor, die das Nennen verunmöglicht."
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Betroffene eignen sich meist Strategien an, um Namensäußerungen zu umschiffen: Sie beginnen Gespräche mit alternativen Phrasen, versuchen, die Aufmerksamkeit des Gegenübers durch Blickkontakt auf sich zu lenken. Manche können auf Kosenamen ausweichen, andere nicht. Nicht immer sind diese Strategien erfolgreich, weiß Ditye aus Gesprächen mit Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern. "Einmal hat uns jemand erzählt, dass sie ihren Bekannten nicht warnen konnte, als am Feld ein Traktor auf ihn zufuhr. Sie hat ’Hey hey’ gerufen, er hat es aber nicht gehört, bis jemand anderer endlich seinen Namen gerufen hat."
Alexinomie geht nicht spurlos am Menschen vorüber. "Es ist den Menschen unangenehm, sie schämen sich", weiß Ditye. Insbesondere dann, wenn die Navigation durch soziale Situationen mit der Nennung des Namens steht und fällt oder Betroffene dabei "ertappt" werden, keine Namen sagen zu können. Das empfundene Unbehagen kann sich dann auch körperlich ausdrücken, durch Herzrasen, Erröten oder panikähnliche Zustände.
Alexinomie kann in allen zwischenmenschlichen Beziehungen auftreten. Besonders ausgeprägt erleben es Betroffene in Partnerschaften und Autoritätsverhältnissen. Beziehungen gestalten sich dadurch mitunter schwierig. "Es kann Beziehungen sogar erheblich belasten", weiß Ditye. Oft komme es zu Missverständnissen – "das Umfeld glaubt, dass es an Zuneigung mangelt, und ist verletzt oder verärgert". Dabei sei das Gegenteil der Fall: "Betroffene haben sogar häufig starke Gefühle. Sie wünschen es sich sehr, den Namen ihres Partners sagen zu können. Genau das macht es so schwierig."
Soziale Ängste als mögliche Ursache
Ditye forscht mit seinem Team auch zu den Ursachen. "Bei unseren Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern hat sich gezeigt, dass soziale Ängste eine Rolle spielen. Personen, die sich in Beziehungen unsicher fühlen und Schwierigkeiten haben, anderen zu vertrauen oder Nähe zuzulassen, scheinen ebenfalls eher betroffen." Das sei auch nachvollziehbar: "Wenn man einen Namen sagt, ist man der Person plötzlich sehr nahe. Für die Betroffenen kann das zu viel sein."
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Dass Alexinomie im wissenschaftlichen Diskurs bisher keinen Niederschlag gefunden hat, ist für Ditye rätselhaft. "Ich vermute, dass es damit zu tun hat, dass Alexinomie schambesetzt ist." Die allermeisten Betroffenen würden denken, sie seien damit allein.
Dass dem nicht so ist, hat sich in den Forschungen an der SFU schon eindeutig gezeigt. Genaue Angaben zur Häufigkeit könne man zwar noch nicht machen. Ob Männer oder Frauen häufiger betroffen seien, lasse sich noch nicht abschätzen. "Bei uns melden sich aber laufend, etwa einmal pro Woche, Menschen, die Alexinomie erleben – und zwar aus der ganzen Welt."
Ditye hält es übrigens für plausibel, dass Alexinomie in allen Sprachen vorkommt, in denen Namen in der Alltagskommunikation verwendet werden, um Kontakt herzustellen. Gilt dies als unüblich oder unhöflich, sei davon auszugehen, dass das Phänomen nicht vorkommt.
Offene Fragen für weitere Forschungen
Doch was hilft Menschen, die daran leiden? Ditye vermutet, dass Alexinomie Teil eines größeren psychischen Störungsbildes ist. "Dann wäre es naheliegend, dass mit klinisch-psychologischer und psychotherapeutischer Behandlung gegengesteuert werden kann." Derzeit ergründet man mittels EEG, wie sich Alexinomie im Gehirn abbildet. Auch an Kriterien für die Diagnose wird gearbeitet.
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Sandra hat inzwischen Fortschritte gemacht. Dennoch fällt es ihr bis heute schwer, "meinen Ehemann mit Namen anzusprechen".
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