Selbstoffenbarung im Sesselkreis: Warum Gruppentherapie die Zukunft ist
Das erste Burn-out hatte Vera mit 15. In den Folgejahren begab sich die Wienerin immer wieder in psychotherapeutische Behandlung. Um unter anderem belastende Kindheitsprägungen aufzuarbeiten. Therapie kannte die heute 28-Jährige lange Zeit nur in Form von Einzelsitzungen. Erst vor wenigen Monaten kam Vera auf die Gruppe. "Das hat schon jetzt so vieles verändert", erzählt sie.
Dafür seien vor allem die Einblicke in andere Lebens- und Leidensrealitäten verantwortlich. "Man lernt neue Sichtweisen kennen, mit denen andere auf Probleme schauen. Das gibt oft entscheidende Denkanstöße."
Lernen am Modell ist auch für Gerti Saumer ein zentraler Wirkfaktor. Die Psychotherapeutin leitet in Wien psychotherapeutische Gruppen. Neben Lernfeldern seien sie auch soziale Übungswiesen: "Die Gruppe ermöglicht wichtige Beziehungserfahrungen und kann die Empathiefähigkeit nachhaltig stärken."
Studien bestätigen Effektivität der Gruppentherapie
Der deutsche Psychologe und Psychoanalytiker Bernhard Strauß erforscht das Potenzial der Gruppenpsychotherapie seit vielen Jahren am Universitätsklinikum Jena. Aus wissenschaftlicher Sicht sei die Gruppentherapie hocheffizient und dem Einzelsetting ebenbürtig. Allein die Erfahrung, dass man mit seinen Problemen nicht allein und ein anderer bei deren Bewältigung erfolgreich gewesen sei, "kann Hoffnung machen, es auch zu schaffen". Dieses Ausprobieren in der Gruppe führe nachweislich zu nachhaltigen Verhaltensänderungen.
Allerdings: Die Hemmschwelle, eine Gruppentherapie zu besuchen, ist nach wie vor groß, weiß Saumer: "Wenn Menschen sich verletzlich zeigen, fürchten sie Bewertung, Ablehnung und Ausgrenzung. Gerade hier kann die Gruppe aber stärkende Erfahrungswerte liefern, Zugehörigkeitsgefühl und Vertrauen fördern." Neben der Angst vor der Selbstoffenbarung herrsche oft jene vor der Überforderung durch fremde Schicksale vor. Auch ein Lerneffekt: "Sich Herausforderungen zu stellen."
Geschichte
Die Gruppentherapie ist kein neues Behandlungskonzept: Erste Ansätze finden sich im frühen 20. Jahrhundert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie durch die Behandlung von Traumfolgestörungen salonfähig. In den vergangenen Jahrzehnten widmete sich die Forschung ihrer Wirksamkeit: Das Gros der Studien bescheinigt der Gruppentherapie eine mit Einzeltherapien vergleichbare Effektivität.
Arten
Man unterscheidet geschlossene und offene Gruppen: Bei ersteren gibt es eine fixe Anzahl an Terminen und Teilnehmenden, zweitere finden wöchentliche statt und stehen neuen Mitgliedern offen.
Im Vergleich zum Einzelsetting ist die Gruppe finanziell entlastend
"Patienten wollen ihren Therapeuten meist für sich allein", bestätigt auch Strauß. Die Skepsis fuße darauf, "dass die meisten in ihrem Leben negative Erfahrungen in Gruppen machen und auch in der Therapie damit rechnen". Ein Trugschluss, weiß Vera zu berichten: "Man hat Raum für seine Geschichte und wird nicht abgewertet, sondern wertgeschätzt."
Stichwort Selbstwert: Noch vor einiger Zeit empfand Vera sich selbst als unscheinbar, "als graue Maus sozusagen". In der Gruppe bekam sie eine ganz gegenteilige Rückmeldung: "Man hat mir gesagt, wie stark ich wirke – für mich enorm wichtig." Die Therapie in der Gruppe ist für Vera nicht nur seelisch entlastend, "sondern auch finanziell". Den ökonomischen Aspekt hebt auch Strauß hervor: "Man kann schlicht in einem bestimmten Zeitraum mehr Menschen behandeln." Aus gesundheitspolitischer Sicht sei es lohnend, "Gruppentherapie zu fördern, um Wartezeiten auf einen Therapieplatz zu verringern". Und einer Zustandsverschlechterung oder Chronifizierung vorzubeugen. Eine Therapie in der Gruppe könne – insbesondere für gruppenaffine Menschen – eine Einzeltherapie zur Gänze ersetzen, führt Saumer aus.
Die Gruppe ermöglicht wichtige Beziehungserfahrungen und kann die Empathiefähigkeit nachhaltig stärken.
Darauf zu achten, dass alle Teilnehmenden mit "ein bisschen Erleichterung", wie es Vera formuliert, nach Hause gehen, ist in erster Linie Aufgabe des Gruppenleiters. Dafür braucht es umfassendes Wissen über gruppendynamische Prozesse, sagt Strauß: "Gruppen entwickeln sich laufend, bilden Machtverhältnisse aus und können auch konflikthaft sein – dessen muss man sich bewusst sein, um die Gruppe lenken und potenzielle Probleme lösen zu können." Dem pflichtet Saumer bei. Nicht nur Konflikte oder Abbrüche können die Gruppe stören, auch zu große Gruppengrößen oder zu kurze Einheiten begünstigen Friktionen.
Der Einstieg in eine neue Gruppe kann fordernd sein, schildert Vera. "Am Anfang ist es ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Man muss sich erst aufeinander einlassen." Das könne auch einmal holprig sein. Mut zur Offenheit mache sich aber bezahlt: "Letztlich lebt die Gruppe davon, was jeder Einzelne preisgibt."
Die meisten haben in ihrem Leben negative Erfahrungen in Gruppen gemacht und rechnen auch in der Therapie damit.
Psychotherapie in der Gruppe hat kaum Grenzen
Hat Psychotherapie in der Gruppe auch Grenzen? "Nicht wirklich", sagt Strauß mit Blick auf die Diagnosen. So könnten zum Beispiel auch Patienten mit schweren psychischen Störungen, etwa Schizophrenie, profitieren. Etwa, um soziale und kognitive Fertigkeiten zu erwerben. "Wenn Menschen eine schwere Sozialphobie haben, kann eine Gruppe als Therapieeinstieg überfordernd sein", sagt Saumer, die sich mit ihrer Initiative freetherapy seit Kurzem für einen vorurteilsbefreiten Zugang zu (Gruppen)Psychotherapie einsetzt. Neben diagnose- oder themenspezifischen Gruppen richtet sie sich mit Angeboten an spezielle Zielgruppen, Führungskräfte oder auch an frischgebackene Eltern. "Aufgrund der knappen Zahl an Kassentherapieplätzen und den hohen Einzeltherapie-Kosten bin ich überzeugt, dass die Zukunft in der Gruppe liegt."
Vera möchte die Gruppe jedenfalls nicht mehr missen. "Man bekommt nicht nur die professionelle Sicht des Psychotherapeuten, sondern ganz viele weitere Expertenmeinungen. Denn jeder Mensch steht als Experte für seine Geschichte."
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