Ohnmacht, Hilflosigkeit, Gefühle des Ausgeliefertseins: Findet der Arzt keine Erklärung für körperliche Symptome, kann das massiv belasten.
Bei rund jedem dritten Patienten können körperliche Beschwerden nicht allein über physische Ursachen erklärt werden. Der KURIER hat mit einem Betroffenen und einem Facharzt gesprochen.
"Es ist eine absurde Geschichte", beginnt Wolfgang E. seinen langen Weg zur Diagnose "somatoforme Störung" zu erzählen. Ihren Lauf nahm sie am 24. Dezember 2015: "Da bin ich aufgewacht und hatte keine Kraft mehr im rechten Arm", erinnert sich der heute 63-jährige Wiener. Dazu gesellten sich in den Folgejahren teils unerträgliche Schmerzen. "Als vor zwei Jahren die Schmerzen in die Beine wanderten, war das der Gipfel der Absurdität."
Als mögliche Ursache seiner chronischen Schmerzzustände stand eine Nervenentzündung im Raum. "So richtig bestätigt hat sich das nie", sagt der pensionierte Rettungssanitäter.
Rätselraten um die Ursache der Schmerzen von Wolfgang E.
Dutzende Untersuchungen bei Fachärzten und stationäre Aufenthalte in spezialisierten Zentren ließ Wolfgang E. in den vergangenen Jahren über sich ergehen."Die Schmerzen sind resistent gegen alle Behandlungen, der Verlauf hat alle Ärzte ratlos hinterlassen."
Wenn Menschen unter Beschwerden leiden, für die sich keine klaren körperlichen Ursachen finden, kann eine somatoforme Störung dahinterstecken, weiß Michael Bach, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin.
"Dabei geht man davon aus, dass körperliche Symptome im Wesentlichen durch psychosoziale Faktoren bedingt werden, sprich Belastungen, Konflikte, Traumatisierungen oder Stress", umreißt der auf Psychosomatik und Stressmedizin spezialisierte Mediziner.
Abgrenzung zwischen somatoformer Störung und Psychosomatik
Die Abgrenzung zur Psychosomatik, ein geläufigerer Begriff, sei schwierig: "Psychosomatik meint, dass allgemein eine Wechselwirkung zwischen physischen und psychischen Faktoren besteht – eine psychosomatische Krankheit entsteht, wenn sie aus der Balance gerät."
Bei rund 30 Prozent aller Patientinnen und Patienten, die mit Beschwerden einen Arzt aufsuchen, lässt sich keine körperlich-medizinische Ursache finden. Ein Indiz, wie verbreitet somatoforme Erkrankungen sind. Beispiele sind Schmerzen, insbesondere Spannungskopf- und Rückenschmerzen, Herzrasen, das Reizdarmsyndrom oder Schwindel.
"Typisch ist ausgeprägter Leidensdruck", weiß Bach, "und die Diskrepanz zwischen Ausmaß der Beschwerden und erlebten Einschränkungen". So würden Betroffene oft die Schmerzintensität als mittelmäßig, damit einhergehende Beeinträchtigungen als massiv beschreiben.
Viele Betroffene zeigen ähnliche Verhaltensmuster. Etwa Eigenbehandlungsversuche mit Schmerzmedikamenten. Auch Gefühle der Ohnmacht, Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins kommen – meist in Kombination mit katastrophisierenden Gedanken – häufig vor.
Typisch ist ausgeprägter Leidensdruck und die Diskrepanz zwischen Beschwerdeausmaß und Einschränkungen.
Wolfgang E. blickt auf bürdevolle Lebensjahre zurück. Als Kleinkind zog er mit seinen Eltern von Wien nach Oberösterreich, der Vater hatte in einem kleinen Ort eine Arbeit angenommen. Seine Mutter verfiel einer schweren Alkoholsucht: "Wahrscheinlich, weil sie sich einsam fühlte", denkt Wolfgang E. zurück. Ab dem Volksschulalter wuchs er dauerhaft in Heimen auf. Mit der familiären Vernachlässigung ging auch Gewalt einher. "Meine Mutter war ein herzensguter Mensch, wenn sie einen bestimmten Alkoholpegel überschritten hatte, ist sie mir aber wie der Teufel persönlich vorgekommen."
Gewalterfahrungen, die – wie Wolfgang E. es beschreibt – "im Vergleich zu dem, was ich in den Heimen erlebt habe, nicht der Rede wert waren". Körperliche Gewalt stand dort auf der Tagesordnung. "Bestrafungsmethoden gab es viele", berichtet der 63-Jährige. "Auch sexuelle Übergriffe sind vorgekommen." Das Schlimmste sei für ihn gewesen, "dass mir jedes Wochenende versprochen wurde, dass mich meine Eltern abholen". Vorgekommen sei das nur selten.
Vertrauen in andere Menschen fassen ist, so formuliert es Wolfgang E. nach vielen Jahren der Psychotherapie, "für mich nicht möglich". Er habe "lange versucht, das zu ändern, es war nie von Erfolg gekrönt". Um die Belastungen seiner Kindheit zu überstehen, habe er sich einen "inneren Panzer zugelegt – und leider beibehalten".
Die Schmerzen sind resistent gegen alle Behandlungen, der Verlauf hat alle Ärzte ratlos hinterlassen.
Grundsätzlich seien somatoforme Störungen heilbar, sagt Experte Bach. "Bei einem Großteil erreichen wir eine befriedigende Linderung, bei einem Teil sogar völlige Rückbildung der Symptome."
Wie bahnt sich Seelenleid den Weg über den Körper? "Chronischer Stress führt zu Fehlregulationen im Organismus." Beispielsweise einer Hyperaktivität oder -sensibilität im Darm, Veränderungen im Immunsystem, einer Beanspruchung der Stressverarbeitung über das Cortisolsystem oder auch chronischen Muskelverspannungen im Rücken.
Debatte um die Ursachen von gesundheitlichen Beschwerden
Jedes körperliche Symptom kann auch auf eine somatoforme Erkrankung hinweisen. "Man kann nie definieren, zu wie viel Prozent eine Krankheit psychisch bzw. physisch verursacht ist", sagt Experte Bach. Die Trennung körperlicher und psychischer Ursächlichkeiten sei überholt. "Es ist immer ein Sowohl-als-auch", präzisiert er.
Bach illustriert es anhand eines Beispiels: "Wenn jemand einen Bandscheibenvorfall hat, liegt eine körperliche Ursache vor. Leidet man noch an Schmerzen, wenn sich der Bandscheibenvorfall zurückgebildet hat, stellt sich die Frage nach dem Grund. Dann treten psychosoziale Faktoren in den Vordergrund, die dazu führen, dass aus einer akuten Problematik eine chronische somatoforme Erkrankung wird."
In Fachkreisen setzt sich zunehmend der Begriff der somatischen Belastungsstörung durch. "Das drückt besser aus, worum es geht: Menschen, die sich aufgrund ihrer Körpersymptome belastet fühlen."
Wandel der Symptome psychosomatischer Erkrankungen
Jüngst manifestiert sich Stress laut Bach immer öfter in der sogenannten Fatigue. Bach: "Der Körper sucht sich Symptome, die gesellschaftlich Gehör finden. Früher waren es primär Schmerzen, heute ist es Erschöpfung."
Angst vor dem sozialen Stigma
Seinen emotionalen Panzer sieht Wolfgang E. inzwischen als Erklärung für seine Schmerzen. "Heute erscheint es mir plausibel, dass meine Traumata dafür verantwortlich sind." Viele Ärzte seien damit überfordert: "Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ich, wenn ich meine Schmerzgeschichte erzähle, nicht ernstgenommen werde."
Oft dauert es lange – im Schnitt bis zu sechs Jahre –, bis Menschen mit somatoformen Störungen diagnostiziert und adäquat behandelt werden. Die Gründe dafür seien vielschichtig, sagt Bach: "Sowohl Ärzte als auch die Gesellschaft denken noch dualistisch, das heißt entweder somatisch oder psychisch."
Psychische Ursachen werden von Patienten auch aus Angst vor Stigmatisierung negiert. "In der Gesellschaft hält sich nach wie vor das Bild des eingebildeten Kranken", sagt Bach. Er unterstreicht: "Schmerzen bildet man sich nicht ein, man kann sie nur nicht objektivieren, das ist die Krux."
Aktuelle Therapien für somatoforme Störungen
Ist man einer somatoformen Störung auf die Spur gekommen, ist eine Therapiekombination aus psychotherapeutischer, medikamentöser und körperbezogener Behandlung wirksam. Bachs Botschaft: "Wir kennen dieses Krankheitsbild heute sehr gut und können es mit ganzheitlichem Blick gut behandeln."
Wolfgang E. hat Wege gefunden, mit seinem "Dauerschmerz" zu leben. Die Hoffnung auf ein schmerzfreies Leben hat er aufgegeben. "Ich kann mein Leben gut bewältigen, das ist viel wert", sagt der Wiener, der neben einer Leidenschaft für Fußball ein Faible für Quantenphysik hegt. Manchmal rücken seine Schmerzen in den Hintergrund. Etwa, wenn er in seiner Seniorengruppe über den Ursprung des Lebens sinniert.
Wichtig war für Wolfgang E., dass sein Leid durch die kirchlichen Heimbetreiber offiziell anerkannt wurde. "Man sagte mir, dass es so passiert ist. Das war für mich mehr wert als die Entschädigungszahlungen. Als Kind hat mir nie jemand geglaubt."
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