Kinderpsychiatrie: Triage ist bereits Alltag
Für Kinder und Jugendliche, die unter psychischen Erkrankungen leiden, heißt es schon länger: Bitte warten. Plätze in stationären oder ambulanten Kliniken sind mit langen Wartelisten belegt, Fachärzte fehlen, Kassenplätze für Psychotherapie ebenso. Kinder und Jugendliche warten sechs bis neun Monate auf einen stationären Aufenthalt, auf einen Ersttermin bei einem Kinder- und Jugendpsychiater drei bis vier Monate, auf einen Kassen-Psychotherapieplatz sechs bis 18 Monate.
Nur wenn eine Gefährdung vorliegt, können sie für wenige Nächte aufgenommen werden, berichtet die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ÖGKJP). Wann eine solche Krise vorliegt, wird nach Triage-Regeln entschieden – eine für alle Seiten belastende Situation. "Für die Betroffenen heißt das eine hohe Krankheitslast, die bei nicht entsprechender Behandlung mit einer hohen Rate an Chronifizierung einhergeht. Die Pandemie hat die ohnehin angespannte Situation sehr verstärkt und wie ein Brennglas gewirkt“, sagte Kathrin Sevecke, Präsidentin der ÖGKJP und Direktorin der Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Innsbruck. Nach zweieinhalb Jahren Pandemie sei etwa jeder dritte Jugendliche mit Belastungen konfrontiert.
Zu wenig Betten
401 vollstationäre und 138 Tagesklinik-Plätze gibt es aktuell in Österreich – für 1,73 Millionen Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 6.699 vollstationäre Betten und 3.895 Tagesklinikbetten. Sevecke: "Umgelegt auf Österreich würde das eine Anzahl von 700 vollstationären Betten und 410 Tagesklinikbetten bedeuten. Anders als in Deutschland und der Schweiz wurde in Österreich die Bettenzahl in den vergangenen Jahren nicht aufgestockt."
Auch die Verweildauer hat sich seit Beginn der Pandemie verkürzt – es gibt mehr Akut- und Krisenbehandlungen mit einer Verweildauer von durchschnittlich ein bis drei Tagen. "Erkrankungen wie Essstörungen, Ängste und Depressionen haben massiv zugenommen und bedingen lange Behandlungsverläufe. Das kann aber nur wenigen Patienten ermöglicht werden, wodurch es zu einer relativ hohen Wiederaufnahmerate kommt“, sagt Sevecke. Die Expertin spricht von einem "Drehtüreffekt".
Kinder- und Jugendpsychiater fehlen
Abgefangen werden könnte dies durch niedergelassene Fachärzte. Derzeit gibt es österreichweit aber nur 37,5 Kassenstellen – laut WHO-Schlüssel wären 112 Stellen notwendig. "Wir bräuchten dreimal so viele Kinder- und Jugendpsychiater, doch die müssen erst ausgebildet werden. Es stauen sich nun noch mehr schwer kranke junge Patienten in die Versorgung außerhalb der Spitäler zurück. Die Telefone in den Ordinationen laufen heiß", betonte Helmut Krönke, Vertreter der niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater. Ein rasches Behandeln, das bei vielen psychischen Erkrankungen notwendig ist, sei schlicht nicht möglich. Ein Lösungsansatz wäre Lehrpraxen finanziell zu fördern, dass also bereits niedergelassene Fachärzte Kollegen ausbilden.
"Wir produzieren durch diesen Mangel chronisch kranke Erwachsene", sagte Krönke, Bundesfachgruppen-Obmann in der Ärztekammer. "Und das zahlen wir in der Zukunft, denn ein solcher Erwachsener wird in unser Sozialsystem nicht mehr viel einzahlen." Schon vor Ausbruch der Pandemie fehlten in Österreich 50 Prozent der benötigen Krankenhausbetten, im Februar 2021 wiesen dann mehr als die Hälfte, nämlich 55 Prozent der Jugendlichen, depressive Symptome auf, 47 Prozent Angstsymptome, 23 Prozent litten an Schlaflosigkeit und bei 60 Prozent offenbarte sich ein gestörtes Essverhalten. Während bereits die Pandemie Belastungen erhöhte, kämen durch den Ukraine-Krieg oder durch drohende Armut weitere Belastungen dazu.
Begrenzte Ressourcen
"Psychische Erkrankungen nehmen nicht nur zu, sie werden auch immer komplexer, wie die Bedrohlichkeit der Krisen zunimmt", ergänzte Judith Noske, Leiterin der Kinder- u. Jugendpsychiatrie am Standort Hinterbrühl des Landesklinikum Baden-Mödling. Laut Noske stehe man vor dem seit Corona bekannten Problem der Triage, also vor der Frage, wie die begrenzten Ressourcen an Behandlungsmöglichkeiten auf die jungen Patienten verteilt werden.
"Therapeutische Behandlungskonzepte können nur noch selten angeboten werden", so Noske.Tragisch sei, dass eine frühe Behandlung in sehr vielen Fällen eine Chronifizierung mit all den persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen verhindern könnte.
Was die meisten Mitarbeiter betrifft, so würden diese eine hohe Identifikation mit ihrer Arbeit zeigen, "sie haben alle viel geleistet, doch sind sie sehr erschöpft und können nicht mehr", sagte Noske über ihre Kollegenschaft - und es sei nicht zu erwarten, dass sich hier viel ändern werde. Die Situation sei in jedem Bundesland schlecht, sagte Facharzt Krönke. Wien habe zwar mehr Wahlärzte zur Verfügung, das Problem sei aber die stationäre Versorgung, und "da ist die Frage, wen melde ich da überhaupt an" - also die Triage. Das Wiener Krankenhaus Nord habe etwa weiterhin keinen stationären Betrieb, die Situation um den Rosenhügel sei ein tragisches Negativbeispiel.
Über Jahre vernachlässigt
Insgesamt ergebe sich österreichweit eine Problematik, die sich je nach Bundesland einmal schärfer im niedergelassenen und einmal schärfer im stationären Bereich offenbare, letztgenannter wurde laut Sevecke über Jahre hin vernachlässigt. Im Burgenland gibt es im niedergelassenen Bereich nicht einmal eine Stelle mit Kassenvertrag. Das Resultat seien junge Menschen mit mittelschweren und leichtgradigen Erkrankungen, deren Beschwerden sich aufgrund der langen Wartezeiten verdichten, während sich die schwerkranken Patienten zurück in den niedergelassenen Bereich stauen.
Die ÖGKJP fordert ein leicht zugängliches abgestuftes Behandlungsangebot im ambulanten, stationären und niedergelassenen Bereich. Dazu bräuchte es laut Sevecke doppelt so viel Personal in allen Berufsgruppen der Kinderpsychiatrie von Pflege, Psychologie bis Medizin sowie flächendeckende Psychotherapie für Kinder und Jugendliche auf Krankenschein. Die ÖGKJP fordert auch einen politischen Koordinator, der dies ministeriumsübergreifend erarbeitet. "Die Mangelversorgung führt nicht nur zu großem Leid und eines Tages chronisch kranken Erwachsenen, sondern auch zu massiven, vermeidbaren Kosten", so Sevecke.
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