Kindermedikamente: "Noch nie so einen dramatischen Engpass gesehen"
Die Wintersaison war geprägt von großen Sorgen vieler Eltern: Viele Medikamente, darunter Antibiotika waren vergriffen. Das führte zu Hamsterkäufen und zu emotionalen Szenen bei den Apotheken. Die Erkältungssaison ist jetzt vorbei. Aber ist damit auch die Versorgungssicherheit wieder gewährleistet? Ein Expertenpodium der Apothekerkammer gibt vorsichtige Entwarnung. Aber es braucht Gegenmaßnahmen.
Das sind die wesentlichen Fragen:
- Sind Inhaltsstoffe in ausreichendem Maß gelagert?
- Wie sehr bestimmt der Preis das Angebot?
- Und wie kann man besorgten Eltern ein zusätzliches Hilfsangebot geben?
"Nicht wirklich entspannt"
Der Gipfel an viralen Atemwegsinfektionen (RSV, Grippe, Corona) ist zwar überschritten, nach wie vor gibt es aber zahlreiche bakterielle Infektionen mit A-Streptokokken, den Erregern von Mandelentzündungen (Angina) und Scharlach (wenn zur Angina der typische Ausschlag dazu kommt). "Die Situation mit Engpässen bei Medikamenten hat sich nicht wirklich entspannt, nach wie vor telefonieren wir als Ärzte die Apotheken durch", sagte der Kinderarzt Reinhold Kerbl, Generalsekretär der Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (die medizinische Fachgesellschaft der Kinderärzte), bei einer Diskussionsveranstaltung der Österreichischen Apothekerkammer ("APOtalk") zum Thema "Kindergesundheit in Not: Wie verbessern wir die Versorgung?"
"Alltag, dass wir Medikamente nicht bekommen"
Er habe in seiner bisherigen Laufbahn "noch nie so einen dramatischen Engpass gesehen" wie in den vergangenen Monaten, so Kerbl, der auch die Kinderabteilung im Landeskrankenhaus Hochsteiermark in Leoben leitet. "Es ist unser Alltag, dass wir Medikamente einfach nicht bekommen."
Die Problematik nicht lieferbarer Medikamente gebe es zwar seit vielen Jahrzehnten, sagt Ulrike Mursch-Edlmayr, Präsidentin der Österreichischen Apothekerkammer. "Was die Menge an Medikamenten betrifft, war 2020 der Höhepunkt." Derzeit seien zwischen 400 und 600 Medikamente nicht lieferbar oder nur sehr schwer erhältlich: "Der Unterschied zu früher ist: Früher gab es am Markt mehr Austauschmöglichkeiten mit wirkstoffidenten Produkten" - also Arzneimitteln anderer Hersteller mit demselben Inhaltsstoff. "Aber wir haben zunehmend Probleme, solche Austauschprodukte zu finden." Dies hat mit der Konzentration der Produktion auf immer weniger Hersteller zu tun.
"Weinende, völlig entnervte Eltern"
In den Apotheken führen diese Engpässe immer wieder zu "panikartigen Situationen: Wir haben weinende, völlig entnervte Eltern bei uns stehen, die nicht wissen, wie sie ihr Kind versorgen sollen", sagt Mursch-Edlmayr. Pro Apotheke sei derzeit im Schnitt ein Aufwand von 10 bis 15 Stunden pro Woche notwendig, "in denen ein Mitarbeiter ausschließlich damit beschäftigt ist, Lieferengpässe irgendwie abzufedern - etwa durch voraussschauendes Bestellen, damit daraus keine Versorgungsengpässe werden. Das ist extrem aufwendig geworden."
Eine gewisse Entspannung zeigt sich bei den Antibiotika. Speziell auch für die Therapie der Streptokokken-Angina hat die vereinfachte Abgabe von in den Apotheken hergestellten Antibiotika-Präparaten mit dem Wirkstoff Amoxicillin (gehört zu den Penicillinen) die Versorgung verbessert. Antibiotika mit Amoxicillin dürfen jetzt ohne chef- und kontrollärztliche Bewilligung von den Apothekerinnen und Apothekern selbst zubereitet werden.
Antiobiotika zweiter Wahl wurden verwendet
"Zum Teil mussten wir bei Streptokokken-Angina auch Antibiotika zweiter Wahl verwenden - ein Antibiotikum, gegen das es Resistenzen gibt und das auch Resistenzen erzeugen kann.Ganz wohl ist einem dabei dann nicht, so etwas verordnen zu müssen", sagt Kerbl. Dies sei aber jetzt nicht mehr notwendig, seit Penicillin-Präparate in den Apotheken hergestellt werden können.
Kerbl: "Ich weiß aber nie, ob ich am nächsten Tag das Standardantibiotikum gegen Streptokokken in der Kinderformulierung erhalte. Wenn nicht, kann ich auf die Herstellung in der Apotheke ausweichen.Trotzdem bleibt die Lage insgesamt angespannt."
Rohstofflager gefordert
Der Kinderarzt betont, dass die Engpässe nur die billigen Medikamente wie die Antibiotika oder die Fiebermittel, betreffen, "die praktisch nichts kosten".
Apothekerkammer-Chefin Mursch-Edlmayr fordert die rasche Einrichtung eines Rohstofflagers: "Dort lagert man 25-Kilo-Gebinde der wichtigsten Wirkstoffe ein. Die Rohstoffe sind billig und lange haltbar."
Kerbl: "Beim Gas haben wir es geschafft, unsere Lager in kürzester Zeit zu füllen, bei den Medikamenten nicht. Da frage ich mich schon, wo denn der Unterschied zwischen Gas und Medikamenten liegt, speziell den Medikamenten für die Kinder." Zumal es sich nur um 300 Medikamente für den Alltag handle und weitere 500 bis 1000, die "ab und zu gebraucht werden".
Bedarf für etwa ein Jahr einlagern
Andreas Huss, Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), betonte ebenfalls, dass es notwendig sei, Lager einzurichten, die den Bedarf für 10 bis 12 Monate abdecken. "Wir werden einige Monate benötigen, um diese Lager aufzubauen." Dafür brauche es eine politische Entscheidung: "Der gesetzliche Auftrag ist noch nicht formuliert, aber ich hoffe, dass er bald kommt."
Dass die Lieferengpässe damit zu tun haben, dass Österreich ein Niedrigpreisland ist, könne er nicht bestätigen, so Huss: "Engpässe haben auch Länder mit höheren Preisen." Wenn Deutschland jetzt die Preise für bestimmte Medikamente erhöhe, die nicht verfügbar sind, dann sei das keine Lösung und unsolidarisch:, weil diese Medikamente dann woanders fehlen." Kurzfristig liege die Lösung in der Erhöhung der Lagerkapazitäten, langfristig darin, wieder mehr Produktionskapazitäten nach Österreich zu bekommen.
Die Preisfrage
Anders sieht das Mursch-Edlmayr: "Es gibt Länder, die wissen nicht, wie man das Wort Lieferengpass schreibt, weil sie höhere Preise zahlen." Die Kosten von vielen der von Engpässen betroffenen Medikamente lägen rund um die Rezeptgebühr oder sogar darunter: "Das geht sich einfach nicht mehr aus."
Kerbl: "Ich habe für ein Kind mit Tuberkulose ein spezielles Basismedikament in Österreich nicht bekommen und dann über einen Auslandsimport nach Österreich geholt. Als ich den Preis sah - 2,94 Euro für 100 Tabletten - wusste ich, warum es dieses Präparat in Österreich nicht mehr gibt: Weil sich das für keine Firma rentiert."
Eigene Kinderhotline 1451 soll kommen
ÖGK-Obmann Huss gab auch bekannt, dass die Einführung einer eigenen Kinderhotline 1451 fertig verhandelt sei. "Politisch ist abgestimmt, dass wir das machen wollen." Diese Hotline werde auch Thema bei den kommenden Finanzausgleichsverhandlungen sein. "Spätestens im Herbst muss das abgeschlossen sein, dann können wir in die Umsetzung gehen." Bei dieser Hotline sollen als Ansprechpersonen Kinderärzte zur Verfügung stehen, die via Telefon, so weit möglich, eine erste Abklärung durchführen und mit den Eltern die weitere Vorgangsweise besprechen.Huss: "Wenn wir mit Jahresende 2024 starten könnten, wäre das toll."
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