Liefereinschränkungen bei 600 Medikamenten
Rund 600 Arzneimittel sind in Österreich derzeit laut Register der AGES nur eingeschränkt oder nicht lieferbar. Ein sprichwörtliches "Allheilmittel" dagegen gibt es nicht. "Diese Probleme werden uns auch in nächster Zukunft begleiten", sagte jetzt der neue Leiter der AGES Medizinmarktaufsicht, Günter Waxenecker, gegenüber der APA. Mehr Digitalisierung und bessere Lagerhaltung könnten die Situation aber wesentlich entschärfen.
Waxenecker (53), von der Ausbildung her Lebens- und Biotechnologe, ist seit 2007 bei der AGES tätig und leitete ab 2019 die Abteilung für Biologika, präklinische Forschung und medizinische Statistik. Mit April tritt er als Leiter der österreichischen Arzneimittelagentur (Zulassung, Medizinmarktaufsicht) die Nachfolge der auch lange Jahre in Spitzenfunktionen bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) tätigen Christa Wirthumer-Hoche an.
In Sachen Arzneimittelversorgung ist derzeit in Europa, jedenfalls auch aufgrund weltweiter Probleme inklusive von Schwierigkeiten mit Produktion und Lieferketten, "Feuer am Dach". In der Öffentlichkeit werden von verschiedenen Stellen schnelle Lösungen gefordert. Waxenecker dämpft große Erwartungen in diesem Zusammenhang: "Lieferengpässe und Verwerfungen aufgrund verschiedener Ursachen gab es auch schon seit einigen Jahren. Wir hatten auch schon vor der Covid-19-Pandemie bestimmte Märkte mit nur noch zwei oder drei Herstellern, zum Beispiel in Indien oder in China. Die Zulieferindustrie für Arzneimittel hat nun viel längere Vorlaufzeiten. War früher vieles in wenigen Wochen oder Monaten zu beschaffen, so muss jetzt mitunter schon für Herstellungen 2024 und 2025 geordert werden."
Fazit: Bei Problemen, deren Ursachen so vielfältig wie die aktuellen Engpässe sind (Produktionsausfälle, plötzlich vermehrter Bedarf an bestimmten Arzneimitteln/z.B. Antibiotika, Engpässe in Rohstoffherstellung, Transport, Verpackungsmaterialien, ökonomische Faktoren/Generikapreise etc.), lässt sich laut dem neuen AGES-Medizinmarktaufsicht-Chef nicht leicht an einem sprichwörtlichen Schalter drehen - und die Schwierigkeiten sind beseitigt.
Die Behörde hat aber doch einige Gegenmittel parat. Waxenecker: "Wir haben in Österreich immerhin schon mit 1. April 2020 ein für die Pharmaindustrie verpflichtendes elektronisches Register für absehbare und aktuelle Liefereinschränkungen und Engpässe etabliert." Hinzu kam die Möglichkeit, für knappe Arzneimittel ein Exportverbot auszusprechen, um das Abfließen infolge von Parallelexporten, bei denen die Preisunterschiede zwischen Staaten ausgenutzt werden, zu verhindern.
Europäische Lösungen
Wesentlich für die Zukunft werden laut dem Experten konzertierte Aktionen innerhalb der EU sein. Das beginnt wohl schon bei für Laien unscheinbaren Dingen. Waxenecker: "Es gibt eine Studie, wonach in der EU rund 80 Prozent der sogenannten Arzneimittelengpässe regionaler Natur sind. Aber wir benötigen zum Beispiel eine für die EU geltende Definition, was ein solcher Engpass überhaupt ist. Wann genau spricht man von Lieferschwierigkeiten bzw. Lieferengpässen?" Ist der Ausfall einer Produktionsstätte entscheidend? Ist die Nicht-Erhältlichkeit einer Dosierungs- oder Anwendungsform eines Arzneimittels schon ein Engpass? Wie sieht es mit Ausgleichslieferungen aus anderen EU-Ländern aus?
Gerade für einen EU-weiten Überblick über die vorhandenen Mengen der einzelnen Arzneimittel gäbe es prinzipiell eine bereits geeignete Plattform: Die seit einigen Jahren funktionierende Serialisierung, das heißt die durch QR-Code mögliche Identifizierung jeder einzelnen Medikamentenpackung von Produktion bis zur Abgabe in den Apotheken. "Das könnte man auch dazu verwenden, einen Überblick über die Versorgungslage zu erhalten", sagte der Experte. Dies sollte über die EU geregelt werden. Ursprünglich wurde die Arzneimittelpackungs-Serialisierung als Mittel gegen Fälschungen eingeführt, jetzt könnte sie theoretisch eine zusätzliche Funktion bekommen.
Produktion in Europa
Natürlich ist auch die zukünftige Sicherstellung von Produktionskapazitäten für strategisch wichtige Arzneimittel in der EU ein Rad, an dem gedreht werden kann. Doch eine Abkehr von wirtschaftlicher Globalisierung ist im 21. Jahrhundert wohl nicht wirklich zu erwarten. Es gibt laut Waxenecker aber durchaus wirksame Mittel, um die teilweise prekäre Situation rund um die Versorgungssicherheit zu verbessern: "In Finnland hat man beispielsweise schon 2009 Maßnahmen gesetzt, um Arzneimittel für einen Zeitraum von drei bis zehn Monaten auf Lager zu haben. Das lässt sich schnell sicherstellen. Es gibt eine niederländische Studie, wonach schon ein Lagerbestand eines Vier-Monat-Bedarfes 75 Prozent der Probleme entschärfen würde."
Dazu sind aber wohl EU-weite Regeln notwendig: Identifizierung jener Arzneimittel, die auf Lager gehalten werden sollten (inklusive Packungsgrößen, Wirkstoffstärken, Anwendungsformen), Errichtung von Lagern und Überwachung des dann erfolgenden Umsatzes, Monitoring von Verschreibungsdaten aus den Arztpraxen etc., Finanzierungsregeln und andere Randbedingungen. "Ganz so geschwind wird das nicht gehen", sagte Waxenecker.
Was allerdings in Österreich bereits möglich wäre: Ärzte könnten direkt an das AGES-Register über die Lieferengpässe/Liefereinschränkungen angebunden werden. "Wir stellen bereits die EDV-Schnittstellen dafür zur Verfügung. Es wäre Sache der Ordinations-EDV-Programmhersteller, dies in ihre Software zu integrieren", sagte Waxenecker. Dann könnten die Ärzte in die Lage versetzt werden, passende Präparate auch gemäß der Erhältlichkeit in den Apotheken zu verschreiben.
Eher zurückhaltend äußerte sich der neue AGES-Medizinmarktaufsicht-Leiter bezüglich des von der Apothekerkammer geäußerten Vorschlags, Wirkstofflager für magistrale Zubereitungen von Arzneimitteln in Apotheken zu schaffen. "Das kann nur eine Notmaßnahme sein." Echte Lagerhaltung in breitenwirksamen Mengen sei wohl nur mit Fertigarzneimitteln möglich.
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