Was es braucht, damit Kinder nicht in Krisen schlittern
"Die Situation von Kindern in Österreich hat sich in den letzten Jahren stark verändert", sagt Christoph Hackspiel, Psychologe und Präsident der Österreichischen Kinderliga, anlässlich der Präsentation des diesjährigen Berichts zur Lage der Kinder- und Jugendgesundheit am Donnerstag.
Familien würden zunehmend vor existenziellen Herausforderungen wie Armut oder Armutsgefährdung stehen, junge Menschen nach wie vor an den Pandemiefolgen leiden. Hinzu kämen überbordender Informationsfluss in sozialen Medien und Zukunftsängste.
Belastete Kindheit kann lebenslange Folgen haben
"20 bis 25 Prozent, sprich rund 400.000 Kinder und Jugendliche, sind mit psychischen, sozialen oder körperlichen Einschränkungen konfrontiert", präzisiert Hackspiel. Hinzu kämen an die 10.000 Kinder, die traumatisierende Auswirkungen von Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung verarbeiten müssen. "Das Risiko, dass sie ein Leben lang mit den Folgen kämpfen, ist groß."
Neben individuellem Leid bedinge das immense volkswirtschaftliche Kosten: "Die fehlende Stützung verursacht pro Jahr rund zehn Milliarden Euro an Folgekosten", sagt Hackspiel, der von einer künftigen Regierung ein zwei Milliarden Euro schweres Maßnahmenpaket und ein eigenes Kinderministerium "für chancengleiches Aufwachsen" fordert.
22 Prozent der Kinder sind hierzulande von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. EU-weit besteht mit dem "European Child Guarantee" eine Selbstverpflichtung aller Mitgliedsstaaten, Kinderarmut bis 2030 abzuschaffen. In Österreich wird dieses Ziel mit dem "Programm Kinderchancen" umgesetzt. Eine begrüßenswerte Entwicklung, findet Hackspiel, der sich darüber hinaus noch intensivere Bemühungen bei der Armutsbekämpfung, bessere Zugänge zu Bildung oder gesunder Ernährung wünscht.
Gelungene Akuthilfe und Bedarf bei Prävention
Selbstwertprobleme, Aggression, Ängste, Essstörungen: Die Krisen junger Menschen haben sich durch die Pandemie anhaltend verschärft, sagt Hackspiel. Wie groß die psychische Belastung Heranwachsender ist, zeigt der bedrückende Blick auf die Zahl der Suizidgedanken und -versuche: "Wir sehen vor allem eine Zunahme bei Mädchen und jungen Frauen. Die Zahl der deswegen hospitalisierten Kinder hat sich in den letzten Jahren mehr als verdoppelt."
Als Beispiel einer von der Politik gestützten, gelungenen Krisenintervention nennt der Psychologe das Projekt "Gesund aus der Krise". Es bietet österreichweit psychosoziale Versorgung niederschwellig und ohne lange Wartezeiten an. Neben der Akuthilfe gelte es präventiv zu agieren, etwa durch entsprechende Angebote in Kindergärten und Schulen. "Damit Kinder erst gar nicht in komplexe Krisen schlittern."
Angebote für sozial benachteiligte Familien
Ob ein Kind psychisch oder körperlich erkrankt, hängt maßgeblich von seinem sozioökonomischen Hintergrund ab. Angebote für sozial benachteiligte Familien seien zentral, "um Chancengerechtigkeit im Gesundheitssystem herzustellen".
Maßnahmen zu setzen, "damit Kinder nicht unter ungünstigen, unsicheren oder schädlichen Lebensbedingungen aufwachsen, muss in einem der reichsten Länder der Welt oberste Priorität haben", befindet auch Hedwig Wölfl, Vizepräsidentin der Kinderliga. Sie plädiert dafür, dass kindliche Bedürfnisse in den Ausbildungen aller Gesundheitsberufe Berücksichtigung finden. "Damit ein kompetenter Blick und eine kindgerechte Kommunikation gelingen können, wenn es um ihr Wohl geht."
Obwohl Kinderrechte seit 35 Jahren in Österreich gelten und seit 2011 in der Verfassung festgeschrieben sind, "bleiben sie ein Thema", sagt Wölfl, auch Leiterin der Kinderschutzorganisation Möwe. "Nicht alle Kinderrechte werden umgesetzt, hier gilt es nachzubessern." Positiv sieht sie das 2023 von der Regierung verabschiedete Kinderschutzmaßnahmenpaket. So wurde unter anderem die erste bundesweite Kinderschutzkampagne ("Nein zu Gewalt") auf den Weg gebracht und offline wie online ausgerollt. "Es bleibt wichtig, dass eine neue Regierung diese Maßnahmen weiterführt, sonst wirken sie nicht."
Ein guter Start ins Leben
Erfreuliches gibt es laut Wölfl auch aus dem Bereich der frühen Förderung zu berichten: "Die Frühen Hilfen (unterstützen schwangere Personen und Familien mit Kleinkindern im Alter von null bis drei Jahren niederschwellig und bedürfnisgerecht in schwierigen Phasen, Anm.) wurden vergangenes Jahr auf ganz Österreich ausgeweitet. Das ist ein Best-Practice-Beispiel für Prävention und dafür, dass viel gelingen kann, wenn sich EU, Bund, Länder und Sozialversicherungsträger bei der Finanzierung zusammentun."
Wichtig sind laut Caroline Culen, Geschäftsführerin der Kinderliga, mehr Impulse in Richtung einer kindgerechten Digitalisierung: "Kinder bewegen sich im digitalen Raum vielfach versiert, werden aber oft allein gelassen", sagt die Psychologin. Der Stress, permanent verfügbar sein zu müssen, Schlafprobleme, weil Kinder bis spät an Displays kleben, der Druck, mit nicht altersgerechten Inhalten umgehen zu müssen: "All das kann Kinder belasten." Hier brauche es eine klare Haltung der Politik einerseits und konkrete Maßnahmen wie bildschirmfreie Schutzräume oder Kompetenztrainings andererseits.
Mehr Gehör für Zukunftsängste
In virtuellen Räumen tauschen sich Kinder und Jugendliche auch darüber aus, wie sehr sie sich um die Zukunft des Planeten sorgen. Als "Klimaangst" wird die wachsende Not, die von ihnen angesichts der folgenschweren klimatischen Veränderungen empfunden wird, bezeichnet. "Wir müssen es ernst nehmen, wenn Kinder keine lebenswerte Zukunft mehr sehen in der sie keine Kinder mehr bekommen wollen. Das macht etwas mit einer Generation und es braucht Möglichkeiten für sie, die Lösung dieser Probleme mitgestalten zu können."
Nicht nur beim Klimaschutz sollten Kinder Gehör finden. "Es sollte uns allgemein ein Anliegen sein, ihnen eine Stimme zu geben", sagt Wölfl. "Ihnen Möglichkeiten zu geben, an der gesellschaftlichen Entwicklung teilzuhaben." Dabei gelte der Grundsatz, dass "alle Kinder – und damit insbesondere auch jene mit Einschränkungen – die gleichen Chancen haben sollten".
"Wir alle sollten begreifen, dass wir möglichst viel in unsere Kinder investieren sollten", fasst Hackspiel zusammen. "Damit wir als Gesellschaft mit starken, resilienten Kindern als Ressourcen gute Zukunftsaussichten haben."
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