Die IBA wird seit Dezember 2020 vom russischen Funktionär Umar Kremlew präsidiert, der als Vertrauter des Machthabers Wladimir Putin gilt. Seit 2019 ist der Boxverband nicht mehr Teil der olympischen Familie, der Verband wurde vom IOK ausgeschlossen. Der Grund: Bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016 war Verdacht manipulierter Ringrichter-Urteile aufgekommen.
Bei besagter Box-WM im Jahr 2023 haben insgesamt 13 große Verbände nicht teilgenommen, weil die IBA russischen und belarussischen Athletinnen gestattete, unter ihrer Landesflagge anzutreten und im Fall eines Sieges, die Nationalhymne abzuspielen. Bei den Spielen in Paris sind lediglich 15 russische Sportler unter neutraler Flagge am Start.
Das Internationale Olympische Komitee (IOC) selbst sah keinen Grund für einen Ausschluss und erklärte, dass sie "die Teilnahmebedingungen sowie alle geltenden medizinischen Vorschriften" erfülle. Laut Reisepass ist Khelif eine Frau, es handle sich "um keine Transgender-Angelegenheit".
Mittlerweile hat auch die unterlegene Italienerin Carini ihr Unverständnis über die Geschlechterdebatte um Khelif geäußert. "Wenn sie nach Meinung des IOK kämpfen darf, respektiere ich diese Entscheidung", sagte sie der Gazzetta dello Sport.
"Transgender" würde bedeuten, dass das empfundene Geschlecht mit dem biologischen nicht übereinstimmt - wie etwa bei dem ehemaligen Olympia-Sieger Bruce Jenner, der mittlerweile als Caitlyn Jenner lebt. Der aktuelle Fall weckt Erinnerungen an den österreichischen Skirennläufer Erik Schinegger, der aufgrund von nach innen gewachsener Geschlechtsmerkmale bei der Geburt als weiblich eingestuft wurde und später zum Mann transitionierte.
Menschen wie Schinegger – und auch Imane Khelif – werden als "intergeschlechtlich" oder "intersexuell" bezeichnet: Sie verfügen über körperliche Geschlechtsmerkmale, die weder eindeutig männlich noch eindeutig weiblich sind. Dies kann die Keimdrüsen, die Chromosomen und das äußerliche Erscheinungsbild betreffen. Man geht davon aus, dass etwa eine von 2.000 Personen betroffen ist. Der Leidensdruck ist groß, die Dunkelziffer ebenso.
Einteilung in zwei Geschlechter ist "fehlerbehaftet"
"Das ist ein hoch komplexes Thema", kommentiert die Biologin und Evolutionspsychologin Elisabeth Oberzaucher die Debatte um Khelif. Sie zeige, dass "männlich und weiblich keine strikten Schubladen sind, sondern Eigenschaften, die ein Kontinuum darstellen", sagt Oberzaucher. "Dementsprechend ist diese Klassifizierung männlich/weiblich immer fehlerbehaftet. Ob es die Testosteronwerte betrifft oder die Muskelmasse – man wird immer Überschneidungen finden. Es ist nichts schwarz-weiß."
Auch bei Olympia wird die Diskussion nicht zum ersten Mal geführt: Südafrikas Läuferin Caster Semanya wurde nach eigenen Angaben ohne Gebärmutter geboren und hatte deswegen ebenfalls zu hohe Testosteronwerte. Sie ließ sich medikamentös einstellen und gewann drei Mal Gold.
Intersexualität: "Körperliche Vorteile sind möglich, aber nicht zwingend"
Letztlich sei es eine rechtliche Frage, ob Personen wie Khelif oder Semanya an Frauenbewerben teilnehmen dürfen, sagt Oberzaucher. "Körperliche Vorteile sind möglich, aber nicht zwingend. Die Schubladisierung in weiblich und männlich ist eine extreme Vereinfachung. Man darf sich nicht wundern, dass es dann zu Problemen kommt."
In weiterer Folge müsse man alle Athleten nach physiologischen Vorzügen bewerten, forderten manche im Kurznachrichtendienst X – egal ob männlich oder weiblich. So war etwa der Rekordschwimmer Michael Phelps für seine überdurchschnittliche Armspannweite bekannt, und auch Superstar Simone Biles werden wegen ihrer besonderen Körpergröße von 1,42 Metern Vorteile im Turnen nachgesagt.
"Unter Umständen sollte man sich von diesem Männlich-/Weiblich-Denken im Sport loslösen", gibt Oberzaucher zu bedenken. Khelifs Kampf gegen Kontrahenten und Kritiker geht indessen weiter. Am Samstag trifft sie im Viertelfinale auf die Ungarin Anna Luca Hamori.
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