Nicht das Virus, sondern die Menschen bestimmen den Verlauf der Pandemie, sagt Manfred Spitzer, einer der bekanntesten Hirnforscher und Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm.
KURIER: Herr Spitzer, in Ihrem neuen Buch "Pandemie" schreiben Sie, Sie haben die Nase voll von Corona - warum denn? Interessiert Sie als Psychiater dieses spannende „Feldexperiment“ und die Reaktionen der Menschen nicht mehr?
Manfred Spitzer: Als ich das Buch schrieb (Mitte April bis ende Mai), waren die Medien mit fast nichts anderem als der Corona-Krise beschäftigt und das hat viele genervt – mich auch. Aber Sie haben Recht: Die Idee zu dem Buch entsprang meiner Arbeit, denn ich war in mehrfacher Hinsicht dauernd mittendrin:
Zum einen als Klinikchef, denn Therapie in der Psychiatrie vollzieht sich in Gruppen, was zum geforderten körperlichem Abstand nicht passt. Wir mussten daher die Psychiatrie innerhalb weniger Tage neu erfinden, um weiter für unsere Patienten da sein zu können. Zum zweiten als Wissenschaftler, denn man erwartet von einem universitären Mediziner, dass er besser informiert ist und immer die neueste Literatur gelesen hat. Und zum dritten als „Fachmann für Einsamkeit“, als der ich seit der Publikation meines Buchs zu diesem Thema vor zwei Jahren gesehen werde.
Was ist dem Neurowissenschafter besonders aufgefallen?
Zur Pandemie gibt es weder Neurowissenschaft noch sozialwissenschaftliche Forschung, weil die letzte – die Spanische Grippe – über hundert Jahre her ist. Aber dennoch haben wir Wissen über Katastrophen, wie beispielsweise den Terroranschlag vom 11. September 2001 oder den einen oder anderen Hurrikan.
Hier zeigt sich, dass Bedrohungen durch Terrorakte eher zu einem gesellschaftlichen Zusammenrücken führen, Naturkatastrophen mit ihren langfristigen existentiellen Folgen hingegen häufiger Spannungen und Trennungen nach sich ziehen. Terror stellt eher eine diffuse Bedrohung dar, Naturkatastrophen resultieren eher in längerfristigen existenziellen Belastungen.
Corona hat von beidem etwas, denn unsere Angst vor dem Virus ist diffus, wir kennen es nicht, es könnte uns tödlich treffen – ähnlich wie ein Terroranschlag. Zugleich betreffen vor allem die ökonomischen Folgen des Virus und vor allem unserer Maßnahmen gegen das Virus uns alle langfristig und auch existentiell. Wir sehen daher bei Corona tatsächlich beide Auswirkungen: sowohl erhöhte Solidarität als auch erhöhte Scheidungsraten.
Sie schreiben, dass Sie glauben, die Krise hätte auch etwas Gutes für die Zukunft. Was wäre das aus Ihrer Sicht?
Hier geht es um gleich mehrere Gesichtspunkte: Zum einen lernen wir – jeder einzelne für sich – Gesundheitsverhalten und das werden wir bei der nächsten Pandemie gut gebrauchen können.
Wir lernen weiterhin gerade als Gesellschaft, wie wichtig es ist, besser vorbereitet zu sein und beispielsweise weder die Produktion von Masken noch die von wichtigen Medikamenten auslagern sollte. Menschen denken übe den Sinn ihres Lebens nach und stellen alte Gewohnheiten in Frage. Und sie rücken mehr zusammen und lernen vor allem die Bedeutung von Gemeinschaft wieder neu zu schätzen.
Sie erwähnen unterschiedliche Meinungen und dass eine Pandemie ein dynamischer Prozess ist. Wie verläuft dieser?
Alles ist nicht nur kompliziert, sondern es bewegt sich auch dauernd. Ein Beispiel: am 6. April erschien im Deutschen Ärzteblatt online – einer für Mediziner in Deutschland wichtigen Informationsquelle – eine Beitrag zum Thema Masken: Eine Studie habe gezeigt, wie gut sie wirken. Am Tag danach (7. April) erschien in der gleichen Informationsquelle: eine neue Studie hat gezeigt, dass Masken gar nichts bringen.
Ich habe mir daraufhin die Originalstudien besorgt, sie gelesen und bewertet: beide waren schlecht und ungeeignet, um medizinisches Handeln zu begründen. Und so haben wir an meiner Klinik weiter Masken getragen, denn es gab ja schon gute Erfahrungen hierzu. Mittlerweile – gut 2 Monate später – liegen sehr gute Studien vor, die ganz klar sagen, dass Masken helfen und wie gut sie dabei helfen, die Wahrscheinlichkeit von Infektionen zu verhindern.
Warum bestimmt nicht das Virus die derzeitige Krise? Es hat sie doch ausgelöst.
Für den Verlauf der Pandemie und für alle unsere Reaktionen darauf sind wir verantwortlich. Das Virus ist wie es ist, was aber in der Krise geschieht, ist sehr unterschiedlich – man braucht ja nur den Verlauf der Corona-Pandemie in Schweden und Norwegen – zwei sehr ähnliche Länder – zu vergleichen.
Schweden hat doppelt so viele Einwohner wie Norwegen und bis Mitte März waren beide Länder etwa gleich betroffen. Dann führte Norwegen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie durch („Lockdown“) und Schweden nicht. Ende Juni gibt es in Schweden sieben Mal mehr Fälle und 21 Mal mehr Todesfälle als in Norwegen. – Das liegt NICHT am Virus!
Automatisch emotional versus bewusst vernünftig: Welche Reaktionen haben Sie im Verlauf der Krise deutlicher wahrgenommen?
Glücklicherweise gab es in meinem medizinischen Umfeld sehr viel mehr vernünftige Reaktionen.
Was ist wichtiger: Das Wissen um unser Verhalten oder das Wissen um das Virus?
Ganz klar: BEIDES! Wer beim Lockdown immer nur überlegt, was alles nicht geht und wie er nun seine Zeit „totschlägt“, macht etwas grundsätzlich falsch und sollte sich definitiv mehr Gedanken über sich selber machen. Und wer so tut, als sei nichts gewesen, der sollte sich mit den vielen überzähligen Toten durch das Virus, seine Ansteckungsgefahr und die Vorteile von Abstand und Masken informieren.
Psychologische Aspekte der Corona-Zeit waren häufig Angst und Einsamkeit. Welche sind auch Sicht des Psychiaters bedeutsamer?
Beides sind sehr wichtige Aspekte: vor allem, weil Einsamkeit das Immunsystem beeinträchtigt und damit das einzige, was wir zur Abwehr haben.
Was ist für Sie gefährlicher? Angst oder Fake News?
Aus meiner Sicht sind Fake News derzeit weitaus gefährlicher, denn in der Medizin sind unzutreffende Meinungen eben nicht nur falsch, sondern mitunter tödlich. Weil Herr Trump beispielsweise Desinfektionsmittel zur Therapie empfahl, starben Menschen. Und wer behauptet, die Krise sei künstlich erzeugt und existiere nicht, erzeugt Sorglosigkeit, die ebenfalls tödlich sein kann.
Warum brauchen wir Experten, gerade in einer Krisensituation wie der Pandemie? Und warum glauben manche Menschen gerade in dieser Situation, es besser zu wissen?
Experten, d.h. Ärzte und Wissenschaftler, werden bekanntermaßen von der Bevölkerung am ehesten für glaubwürdig gehalten. Weil Information sehr wichtig ist, denn die Leute tun am ehesten das Richtige, wenn sie selbst verstanden haben, was aus welchen Gründen richtig ist. Und davon hängt der Verlauf einer Pandemie entscheidend ab.
Welche menschlichen bzw psychischen Mechanismen sind in einer Krise typisch?
Es kommt letztlich die ganze Bandbreite menschenmöglicher Reaktionen vor, von Angst bis Gleichgültigkeit, Egoismus bis Solidarität, gesteigerter Aktivität bis grenzenlose Passivität, Einsamkeit bis erhöhter sozialer Druck bei Quarantäne im Lockdown. Es hängt letztlich von jedem Einzelnen und von der Gesellschaft als Gesamtheit ab, wie diese Krise ausgeht. Es liegt nicht am Virus, sondern an uns.
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